gern zu wiederstehen. Dieser lebte still und friedlich; that niemanden zu viel, und war mit dem wenigen vergnügt, was er hatte. Ein Gewaltiger, dessen unersättliche Begierde ihn verwegen und grausam machte, ward dieses kaum ge- wahr, so griff er den Schwächern an, that mit ihm was er wollte, und erfüllete mit dem Schaden und Untergange des- selben seine gottlose Begierden. Dieses ist der erste Ent- wurf einer poetisch-moralischen Fabel. Die Handlung so darinn steckt, hat die folgenden vier Eigenschafften. (I) Jst sie allgemein. (II) Nachgeahmt. (III) Erdichtet. (IV) Allegorisch, weil eine moralische Wahrheit darinn verbor- gen liegt. Und so muß der Grund aller guten Fabeln be- schaffen seyn, sie mögen Nahmen haben wie sie wollen.
Nunmehro kommt es auf mich an, wozu ich diese Erfin- dung brauchen will; ob ich Lust habe eine Esopische, comi- sche, tragische, oder Epische Fabel daraus zu machen? Alles beruht hierbey auf der Benennung der Personen, so darinn vorkommen sollen. Esopus wird ihnen thierische Nahmen geben und sagen: Ein Schäfchen, welches gantz friedlich am Strome stund, und seinen Durst zu leschen trincken wollte, ward von einem Wolfe angefallen, der am obern Theile eben desselben Wassers soff, und seiner von ferne ansichtig wurde. Dieses räuberische Thier beschuldigt das Schaaf, es habe ihm das Wasser trübe gemacht; so daß er nicht hätte trin- cken können: und wiewohl sich dasselbe durch die Unmöglich- keit der Sache aufs beste entschuldiget, fragt der Wolf doch nichts darnach, sondern greift es an und frißt es auf. Woll- te jemand diese thierische, und folglich unwahrscheinliche Fa- bel, in eine menschliche und desto wahrscheinlichere verwan- deln; so darf man nur diejenige nachschlagen, die dort Na- than dem Könige David erzehlet. Ein armer Mann, wird sie lauten, hatte ein einzig Schäfchen, welches er sehr lieb hat- te: Sein reicher Nachbar hergegen besaß große Heerden. Dieser letztere nun bekam Gäste, und weil er sie zwar wohl aufzunehmen, aber doch von seinen eigenen Schaafen keins zu schlachten willens war: schickt er zu seinem Nachbar, läßt ihm sein einziges Schäfchen mit Gewalt nehmen, schlachten
und
Das IV. Capitel
gern zu wiederſtehen. Dieſer lebte ſtill und friedlich; that niemanden zu viel, und war mit dem wenigen vergnuͤgt, was er hatte. Ein Gewaltiger, deſſen unerſaͤttliche Begierde ihn verwegen und grauſam machte, ward dieſes kaum ge- wahr, ſo griff er den Schwaͤchern an, that mit ihm was er wollte, und erfuͤllete mit dem Schaden und Untergange deſ- ſelben ſeine gottloſe Begierden. Dieſes iſt der erſte Ent- wurf einer poetiſch-moraliſchen Fabel. Die Handlung ſo darinn ſteckt, hat die folgenden vier Eigenſchafften. (I) Jſt ſie allgemein. (II) Nachgeahmt. (III) Erdichtet. (IV) Allegoriſch, weil eine moraliſche Wahrheit darinn verbor- gen liegt. Und ſo muß der Grund aller guten Fabeln be- ſchaffen ſeyn, ſie moͤgen Nahmen haben wie ſie wollen.
Nunmehro kommt es auf mich an, wozu ich dieſe Erfin- dung brauchen will; ob ich Luſt habe eine Eſopiſche, comi- ſche, tragiſche, oder Epiſche Fabel daraus zu machen? Alles beruht hierbey auf der Benennung der Perſonen, ſo darinn vorkommen ſollen. Eſopus wird ihnen thieriſche Nahmen geben und ſagen: Ein Schaͤfchen, welches gantz friedlich am Strome ſtund, und ſeinen Durſt zu leſchen trincken wollte, ward von einem Wolfe angefallen, der am obern Theile eben deſſelben Waſſers ſoff, und ſeiner von ferne anſichtig wurde. Dieſes raͤuberiſche Thier beſchuldigt das Schaaf, es habe ihm das Waſſer truͤbe gemacht; ſo daß er nicht haͤtte trin- cken koͤnnen: und wiewohl ſich daſſelbe durch die Unmoͤglich- keit der Sache aufs beſte entſchuldiget, fragt der Wolf doch nichts darnach, ſondern greift es an und frißt es auf. Woll- te jemand dieſe thieriſche, und folglich unwahrſcheinliche Fa- bel, in eine menſchliche und deſto wahrſcheinlichere verwan- deln; ſo darf man nur diejenige nachſchlagen, die dort Na- than dem Koͤnige David erzehlet. Ein armer Mann, wird ſie lauten, hatte ein einzig Schaͤfchen, welches er ſehr lieb hat- te: Sein reicher Nachbar hergegen beſaß große Heerden. Dieſer letztere nun bekam Gaͤſte, und weil er ſie zwar wohl aufzunehmen, aber doch von ſeinen eigenen Schaafen keins zu ſchlachten willens war: ſchickt er zu ſeinem Nachbar, laͤßt ihm ſein einziges Schaͤfchen mit Gewalt nehmen, ſchlachten
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Das IV. Capitel
gern zu wiederſtehen. Dieſer lebte ſtill und friedlich; that
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wahr, ſo griff er den Schwaͤchern an, that mit ihm was er
wollte, und erfuͤllete mit dem Schaden und Untergange deſ-
ſelben ſeine gottloſe Begierden. Dieſes iſt der erſte Ent-
wurf einer poetiſch-moraliſchen Fabel. Die Handlung ſo
darinn ſteckt, hat die folgenden vier Eigenſchafften. (I) Jſt
ſie allgemein. (II) Nachgeahmt. (III) Erdichtet. (IV)
Allegoriſch, weil eine moraliſche Wahrheit darinn verbor-
gen liegt. Und ſo muß der Grund aller guten Fabeln be-
ſchaffen ſeyn, ſie moͤgen Nahmen haben wie ſie wollen.
Nunmehro kommt es auf mich an, wozu ich dieſe Erfin-
dung brauchen will; ob ich Luſt habe eine Eſopiſche, comi-
ſche, tragiſche, oder Epiſche Fabel daraus zu machen? Alles
beruht hierbey auf der Benennung der Perſonen, ſo darinn
vorkommen ſollen. Eſopus wird ihnen thieriſche Nahmen
geben und ſagen: Ein Schaͤfchen, welches gantz friedlich am
Strome ſtund, und ſeinen Durſt zu leſchen trincken wollte,
ward von einem Wolfe angefallen, der am obern Theile eben
deſſelben Waſſers ſoff, und ſeiner von ferne anſichtig wurde.
Dieſes raͤuberiſche Thier beſchuldigt das Schaaf, es habe
ihm das Waſſer truͤbe gemacht; ſo daß er nicht haͤtte trin-
cken koͤnnen: und wiewohl ſich daſſelbe durch die Unmoͤglich-
keit der Sache aufs beſte entſchuldiget, fragt der Wolf doch
nichts darnach, ſondern greift es an und frißt es auf. Woll-
te jemand dieſe thieriſche, und folglich unwahrſcheinliche Fa-
bel, in eine menſchliche und deſto wahrſcheinlichere verwan-
deln; ſo darf man nur diejenige nachſchlagen, die dort Na-
than dem Koͤnige David erzehlet. Ein armer Mann, wird
ſie lauten, hatte ein einzig Schaͤfchen, welches er ſehr lieb hat-
te: Sein reicher Nachbar hergegen beſaß große Heerden.
Dieſer letztere nun bekam Gaͤſte, und weil er ſie zwar wohl
aufzunehmen, aber doch von ſeinen eigenen Schaafen keins
zu ſchlachten willens war: ſchickt er zu ſeinem Nachbar, laͤßt
ihm ſein einziges Schaͤfchen mit Gewalt nehmen, ſchlachten
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/162>, abgerufen am 16.02.2025.
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