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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IV. Capitel
die meisten Romanschreiber in ihren Büchern ausbrüten.
Allein da es möglich ist die Lust mit dem Nutzen zu verbinden,
und ein Poet nach der bereits gegebenen Beschreibung auch
ein rechtschaffener Bürger und redlicher Mann seyn muß:
So wird er nicht unterlassen seine Fabeln so lehrreich zu ma-
chen, als es ihm möglich ist; ja keine einzige ersinnen, darunter
nicht eine wichtige Wahrheit verborgen läge. Denn

Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci,
Lectorem delectando pariterque monendo.
Hor. Art. Poet.

Die alten Griechen sind uns hier mit guten Exempeln vorge-
gangen. Alle ihre Fabeln stecken voller Sittenlehren, und
es war eine so gemeine Sache, daß ihre Poeten erbauliche
Fabeln schrieben und auf der Bühne vorstellen ließen, daß
man auch allezeit sagte: Eine Fabel, das ist Tragödie oder
Comödie lehren:

Vel qui praetextas, vel qui docuere togatas.
Hor. Art. poet.

So ist z. E. die Fabel der Odyssee beschaffen, wie Aristoteles
selbst uns den Auszug davon macht: Ein König ist viel Jahre
aus seinem Hause abwesend. Neptun verfolgt ihn, und
beraubt ihn aller seiner Gefehrten. Jndessen ist bey ihm zu
Hause alles in Unordnung; Sein Vermögen wird ver-
schwendet; Seine Gemahlin und sein Printz stehen in Ge-
fahr. Endlich aber kommt er nach vielen Ungewittern glück-
lich an, erkennet etliche von den Seinigen, erlegt durch ihren
Beystand seine Feinde und bringt alles wieder in Ordnung.
So ist auch die Fabel vom Oedipus, dem berühmtesten
Trauerspiele so bey den Alten gemacht worden, beschaffen.
Oedipus bittet die Götter um die Abwendung der Pest, wo-
durch Theben verwüstet wurde. Das Orackel antwortet:
Man müsse den Tod des Königes Lajus an dessen Mördern
rächen. Er untersuchet derowegen die Sache, findet aber
nicht nur daß er selbst der Thäter sey, sondern gar ein Sohn
des Lajus gewesen und folglich an der Jocasta, dessen Witt-
we, seine eigene Mutter geheyrathet habe. Darüber be-
straft ersich selbst, indem er sich die Augen ausreißt, ins Elend

geht

Das IV. Capitel
die meiſten Romanſchreiber in ihren Buͤchern ausbruͤten.
Allein da es moͤglich iſt die Luſt mit dem Nutzen zu verbinden,
und ein Poet nach der bereits gegebenen Beſchreibung auch
ein rechtſchaffener Buͤrger und redlicher Mann ſeyn muß:
So wird er nicht unterlaſſen ſeine Fabeln ſo lehrreich zu ma-
chen, als es ihm moͤglich iſt; ja keine einzige erſinnen, darunter
nicht eine wichtige Wahrheit verborgen laͤge. Denn

Omne tulit punctum qui miſcuit utile dulci,
Lectorem delectando pariterque monendo.
Hor. Art. Poet.

Die alten Griechen ſind uns hier mit guten Exempeln vorge-
gangen. Alle ihre Fabeln ſtecken voller Sittenlehren, und
es war eine ſo gemeine Sache, daß ihre Poeten erbauliche
Fabeln ſchrieben und auf der Buͤhne vorſtellen ließen, daß
man auch allezeit ſagte: Eine Fabel, das iſt Tragoͤdie oder
Comoͤdie lehren:

Vel qui praetextas, vel qui docuere togatas.
Hor. Art. poet.

So iſt z. E. die Fabel der Odyſſee beſchaffen, wie Ariſtoteles
ſelbſt uns den Auszug davon macht: Ein Koͤnig iſt viel Jahre
aus ſeinem Hauſe abweſend. Neptun verfolgt ihn, und
beraubt ihn aller ſeiner Gefehrten. Jndeſſen iſt bey ihm zu
Hauſe alles in Unordnung; Sein Vermoͤgen wird ver-
ſchwendet; Seine Gemahlin und ſein Printz ſtehen in Ge-
fahr. Endlich aber kommt er nach vielen Ungewittern gluͤck-
lich an, erkennet etliche von den Seinigen, erlegt durch ihren
Beyſtand ſeine Feinde und bringt alles wieder in Ordnung.
So iſt auch die Fabel vom Oedipus, dem beruͤhmteſten
Trauerſpiele ſo bey den Alten gemacht worden, beſchaffen.
Oedipus bittet die Goͤtter um die Abwendung der Peſt, wo-
durch Theben verwuͤſtet wurde. Das Orackel antwortet:
Man muͤſſe den Tod des Koͤniges Lajus an deſſen Moͤrdern
raͤchen. Er unterſuchet derowegen die Sache, findet aber
nicht nur daß er ſelbſt der Thaͤter ſey, ſondern gar ein Sohn
des Lajus geweſen und folglich an der Jocaſta, deſſen Witt-
we, ſeine eigene Mutter geheyrathet habe. Daruͤber be-
ſtraft erſich ſelbſt, indem er ſich die Augen ausreißt, ins Elend

geht
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[132/0160] Das IV. Capitel die meiſten Romanſchreiber in ihren Buͤchern ausbruͤten. Allein da es moͤglich iſt die Luſt mit dem Nutzen zu verbinden, und ein Poet nach der bereits gegebenen Beſchreibung auch ein rechtſchaffener Buͤrger und redlicher Mann ſeyn muß: So wird er nicht unterlaſſen ſeine Fabeln ſo lehrreich zu ma- chen, als es ihm moͤglich iſt; ja keine einzige erſinnen, darunter nicht eine wichtige Wahrheit verborgen laͤge. Denn Omne tulit punctum qui miſcuit utile dulci, Lectorem delectando pariterque monendo. Hor. Art. Poet. Die alten Griechen ſind uns hier mit guten Exempeln vorge- gangen. Alle ihre Fabeln ſtecken voller Sittenlehren, und es war eine ſo gemeine Sache, daß ihre Poeten erbauliche Fabeln ſchrieben und auf der Buͤhne vorſtellen ließen, daß man auch allezeit ſagte: Eine Fabel, das iſt Tragoͤdie oder Comoͤdie lehren: Vel qui praetextas, vel qui docuere togatas. Hor. Art. poet. So iſt z. E. die Fabel der Odyſſee beſchaffen, wie Ariſtoteles ſelbſt uns den Auszug davon macht: Ein Koͤnig iſt viel Jahre aus ſeinem Hauſe abweſend. Neptun verfolgt ihn, und beraubt ihn aller ſeiner Gefehrten. Jndeſſen iſt bey ihm zu Hauſe alles in Unordnung; Sein Vermoͤgen wird ver- ſchwendet; Seine Gemahlin und ſein Printz ſtehen in Ge- fahr. Endlich aber kommt er nach vielen Ungewittern gluͤck- lich an, erkennet etliche von den Seinigen, erlegt durch ihren Beyſtand ſeine Feinde und bringt alles wieder in Ordnung. So iſt auch die Fabel vom Oedipus, dem beruͤhmteſten Trauerſpiele ſo bey den Alten gemacht worden, beſchaffen. Oedipus bittet die Goͤtter um die Abwendung der Peſt, wo- durch Theben verwuͤſtet wurde. Das Orackel antwortet: Man muͤſſe den Tod des Koͤniges Lajus an deſſen Moͤrdern raͤchen. Er unterſuchet derowegen die Sache, findet aber nicht nur daß er ſelbſt der Thaͤter ſey, ſondern gar ein Sohn des Lajus geweſen und folglich an der Jocaſta, deſſen Witt- we, ſeine eigene Mutter geheyrathet habe. Daruͤber be- ſtraft erſich ſelbſt, indem er ſich die Augen ausreißt, ins Elend geht

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/160>, abgerufen am 27.04.2024.