Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von den Poetischen Nachahmungen.
cken, da sie nehmlich in Haupt- und Neben-Fabeln unter-
schieden werden. Dieser Unterscheid findet sonderlich in
Helden-Gedichten, Romanen und Theatralischen Stücken
statt. Daselbst ist eine die größeste und wichtigste, die im
gantzen Gedichte zum Grunde lieget, und gar wohl ohne die
übrigen bestehen könnte. Auf diese kommt denn hauptsäch-
lich die Schönheit des gantzen Werckes an, weil sie eigent-
lich zum Zwecke des Verfassers führet und die moralische
Absicht desselben unmittelbar befördert. Dergleichen war
die oben angeführte Haupt-Fabel der Jlias; dergleichen ist
in Sophoclis Antigone, welche Opitz verdeutschet hat, die
Grausamkeit Creons, der den Cörper des Polynices, eines
Sohns Oedipi und Jocastä, unter freyen Himmel werfen,
und die Prinzessin Antigone, die sich ihres todten Bruders
annahm und ihn begrub, in eine Höle versperren ließ; darü-
ber er denn nicht nur seinen Sohn Hämon, sondern auch
seine Gemahlin Euridice einbüßete und endlich selbst in Ver-
zweifelung und Raserey fiel. Die Neben- oder Zwischen-
Fabeln aber sind alle die Einschiebsel und beyläufigen Erzeh-
lungen gewisser kleinerer Begebenheiten, die mit der größern
einigermaßen zusammenhangen, und theils zur Verlän-
gerung, theils zur Abwechselung, theils auch zum Verstande
der Hauptfabel etwas beytragen. Dergleichen sind in der
Jlias unzehliche von Göttern und Helden, die Homerus
überall eingestreuet hat; in der Eneis die Begebenheiten
von der Dido, und den Lustspielen die Eneas seinem Vater
zu Ehren angestellet; Jn dem Gottfried die Liebes-Geschicht
von Sophronia und Olindo. Jm Don Quixote der kleine
Roman von Cardenio, und dem eifersüchtigen Bruder; Jm
Telemach die Historie vom Egyptischen Könige Sesostris;
in der Banise die Eroberung verschiedener Städte und den
dabey verübten Grausamkeiten. u. d. m.

Bey allen diesen Poetischen Fabeln fragt sichs nun, ob sie
nothwendig moralische Absichten haben müssen? Man ant-
wortet darauf, daß es freylich wohl möglich sey, Fabeln zur
bloßen Belustigung zu ersinnen, dergleichen manches Mähr-
lein ist, so die Ammen ihren Kindern erzehlen, ja dergleichen

die
J 2

Von den Poetiſchen Nachahmungen.
cken, da ſie nehmlich in Haupt- und Neben-Fabeln unter-
ſchieden werden. Dieſer Unterſcheid findet ſonderlich in
Helden-Gedichten, Romanen und Theatraliſchen Stuͤcken
ſtatt. Daſelbſt iſt eine die groͤßeſte und wichtigſte, die im
gantzen Gedichte zum Grunde lieget, und gar wohl ohne die
uͤbrigen beſtehen koͤnnte. Auf dieſe kommt denn hauptſaͤch-
lich die Schoͤnheit des gantzen Werckes an, weil ſie eigent-
lich zum Zwecke des Verfaſſers fuͤhret und die moraliſche
Abſicht deſſelben unmittelbar befoͤrdert. Dergleichen war
die oben angefuͤhrte Haupt-Fabel der Jlias; dergleichen iſt
in Sophoclis Antigone, welche Opitz verdeutſchet hat, die
Grauſamkeit Creons, der den Coͤrper des Polynices, eines
Sohns Oedipi und Jocaſtaͤ, unter freyen Himmel werfen,
und die Prinzeſſin Antigone, die ſich ihres todten Bruders
annahm und ihn begrub, in eine Hoͤle verſperren ließ; daruͤ-
ber er denn nicht nur ſeinen Sohn Haͤmon, ſondern auch
ſeine Gemahlin Euridice einbuͤßete und endlich ſelbſt in Ver-
zweifelung und Raſerey fiel. Die Neben- oder Zwiſchen-
Fabeln aber ſind alle die Einſchiebſel und beylaͤufigen Erzeh-
lungen gewiſſer kleinerer Begebenheiten, die mit der groͤßern
einigermaßen zuſammenhangen, und theils zur Verlaͤn-
gerung, theils zur Abwechſelung, theils auch zum Verſtande
der Hauptfabel etwas beytragen. Dergleichen ſind in der
Jlias unzehliche von Goͤttern und Helden, die Homerus
uͤberall eingeſtreuet hat; in der Eneis die Begebenheiten
von der Dido, und den Luſtſpielen die Eneas ſeinem Vater
zu Ehren angeſtellet; Jn dem Gottfried die Liebes-Geſchicht
von Sophronia und Olindo. Jm Don Quixote der kleine
Roman von Cardenio, und dem eiferſuͤchtigen Bruder; Jm
Telemach die Hiſtorie vom Egyptiſchen Koͤnige Seſoſtris;
in der Baniſe die Eroberung verſchiedener Staͤdte und den
dabey veruͤbten Grauſamkeiten. u. d. m.

Bey allen dieſen Poetiſchen Fabeln fragt ſichs nun, ob ſie
nothwendig moraliſche Abſichten haben muͤſſen? Man ant-
wortet darauf, daß es freylich wohl moͤglich ſey, Fabeln zur
bloßen Beluſtigung zu erſinnen, dergleichen manches Maͤhr-
lein iſt, ſo die Ammen ihren Kindern erzehlen, ja dergleichen

die
J 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0159" n="131"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von den Poeti&#x017F;chen Nachahmungen.</hi></fw><lb/>
cken, da &#x017F;ie nehmlich in Haupt- und Neben-Fabeln unter-<lb/>
&#x017F;chieden werden. Die&#x017F;er Unter&#x017F;cheid findet &#x017F;onderlich in<lb/>
Helden-Gedichten, Romanen und Theatrali&#x017F;chen Stu&#x0364;cken<lb/>
&#x017F;tatt. Da&#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t eine die gro&#x0364;ße&#x017F;te und wichtig&#x017F;te, die im<lb/>
gantzen Gedichte zum Grunde lieget, und gar wohl ohne die<lb/>
u&#x0364;brigen be&#x017F;tehen ko&#x0364;nnte. Auf die&#x017F;e kommt denn haupt&#x017F;a&#x0364;ch-<lb/>
lich die Scho&#x0364;nheit des gantzen Werckes an, weil &#x017F;ie eigent-<lb/>
lich zum Zwecke des Verfa&#x017F;&#x017F;ers fu&#x0364;hret und die morali&#x017F;che<lb/>
Ab&#x017F;icht de&#x017F;&#x017F;elben unmittelbar befo&#x0364;rdert. Dergleichen war<lb/>
die oben angefu&#x0364;hrte Haupt-Fabel der Jlias; dergleichen i&#x017F;t<lb/>
in Sophoclis Antigone, welche Opitz verdeut&#x017F;chet hat, die<lb/>
Grau&#x017F;amkeit Creons, der den Co&#x0364;rper des Polynices, eines<lb/>
Sohns Oedipi und Joca&#x017F;ta&#x0364;, unter freyen Himmel werfen,<lb/>
und die Prinze&#x017F;&#x017F;in Antigone, die &#x017F;ich ihres todten Bruders<lb/>
annahm und ihn begrub, in eine Ho&#x0364;le ver&#x017F;perren ließ; daru&#x0364;-<lb/>
ber er denn nicht nur &#x017F;einen Sohn Ha&#x0364;mon, &#x017F;ondern auch<lb/>
&#x017F;eine Gemahlin Euridice einbu&#x0364;ßete und endlich &#x017F;elb&#x017F;t in Ver-<lb/>
zweifelung und Ra&#x017F;erey fiel. Die Neben- oder Zwi&#x017F;chen-<lb/>
Fabeln aber &#x017F;ind alle die Ein&#x017F;chieb&#x017F;el und beyla&#x0364;ufigen Erzeh-<lb/>
lungen gewi&#x017F;&#x017F;er kleinerer Begebenheiten, die mit der gro&#x0364;ßern<lb/>
einigermaßen zu&#x017F;ammenhangen, und theils zur Verla&#x0364;n-<lb/>
gerung, theils zur Abwech&#x017F;elung, theils auch zum Ver&#x017F;tande<lb/>
der Hauptfabel etwas beytragen. Dergleichen &#x017F;ind in der<lb/>
Jlias unzehliche von Go&#x0364;ttern und Helden, die Homerus<lb/>
u&#x0364;berall einge&#x017F;treuet hat; in der Eneis die Begebenheiten<lb/>
von der Dido, und den Lu&#x017F;t&#x017F;pielen die Eneas &#x017F;einem Vater<lb/>
zu Ehren ange&#x017F;tellet; Jn dem Gottfried die Liebes-Ge&#x017F;chicht<lb/>
von Sophronia und Olindo. Jm Don Quixote der kleine<lb/>
Roman von Cardenio, und dem eifer&#x017F;u&#x0364;chtigen Bruder; Jm<lb/>
Telemach die Hi&#x017F;torie vom Egypti&#x017F;chen Ko&#x0364;nige Se&#x017F;o&#x017F;tris;<lb/>
in der Bani&#x017F;e die Eroberung ver&#x017F;chiedener Sta&#x0364;dte und den<lb/>
dabey veru&#x0364;bten Grau&#x017F;amkeiten. u. d. m.</p><lb/>
          <p>Bey allen die&#x017F;en Poeti&#x017F;chen Fabeln fragt &#x017F;ichs nun, ob &#x017F;ie<lb/>
nothwendig morali&#x017F;che Ab&#x017F;ichten haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en? Man ant-<lb/>
wortet darauf, daß es freylich wohl mo&#x0364;glich &#x017F;ey, Fabeln zur<lb/>
bloßen Belu&#x017F;tigung zu er&#x017F;innen, dergleichen manches Ma&#x0364;hr-<lb/>
lein i&#x017F;t, &#x017F;o die Ammen ihren Kindern erzehlen, ja dergleichen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J 2</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[131/0159] Von den Poetiſchen Nachahmungen. cken, da ſie nehmlich in Haupt- und Neben-Fabeln unter- ſchieden werden. Dieſer Unterſcheid findet ſonderlich in Helden-Gedichten, Romanen und Theatraliſchen Stuͤcken ſtatt. Daſelbſt iſt eine die groͤßeſte und wichtigſte, die im gantzen Gedichte zum Grunde lieget, und gar wohl ohne die uͤbrigen beſtehen koͤnnte. Auf dieſe kommt denn hauptſaͤch- lich die Schoͤnheit des gantzen Werckes an, weil ſie eigent- lich zum Zwecke des Verfaſſers fuͤhret und die moraliſche Abſicht deſſelben unmittelbar befoͤrdert. Dergleichen war die oben angefuͤhrte Haupt-Fabel der Jlias; dergleichen iſt in Sophoclis Antigone, welche Opitz verdeutſchet hat, die Grauſamkeit Creons, der den Coͤrper des Polynices, eines Sohns Oedipi und Jocaſtaͤ, unter freyen Himmel werfen, und die Prinzeſſin Antigone, die ſich ihres todten Bruders annahm und ihn begrub, in eine Hoͤle verſperren ließ; daruͤ- ber er denn nicht nur ſeinen Sohn Haͤmon, ſondern auch ſeine Gemahlin Euridice einbuͤßete und endlich ſelbſt in Ver- zweifelung und Raſerey fiel. Die Neben- oder Zwiſchen- Fabeln aber ſind alle die Einſchiebſel und beylaͤufigen Erzeh- lungen gewiſſer kleinerer Begebenheiten, die mit der groͤßern einigermaßen zuſammenhangen, und theils zur Verlaͤn- gerung, theils zur Abwechſelung, theils auch zum Verſtande der Hauptfabel etwas beytragen. Dergleichen ſind in der Jlias unzehliche von Goͤttern und Helden, die Homerus uͤberall eingeſtreuet hat; in der Eneis die Begebenheiten von der Dido, und den Luſtſpielen die Eneas ſeinem Vater zu Ehren angeſtellet; Jn dem Gottfried die Liebes-Geſchicht von Sophronia und Olindo. Jm Don Quixote der kleine Roman von Cardenio, und dem eiferſuͤchtigen Bruder; Jm Telemach die Hiſtorie vom Egyptiſchen Koͤnige Seſoſtris; in der Baniſe die Eroberung verſchiedener Staͤdte und den dabey veruͤbten Grauſamkeiten. u. d. m. Bey allen dieſen Poetiſchen Fabeln fragt ſichs nun, ob ſie nothwendig moraliſche Abſichten haben muͤſſen? Man ant- wortet darauf, daß es freylich wohl moͤglich ſey, Fabeln zur bloßen Beluſtigung zu erſinnen, dergleichen manches Maͤhr- lein iſt, ſo die Ammen ihren Kindern erzehlen, ja dergleichen die J 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/159
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/159>, abgerufen am 21.11.2024.