Schreibart entweder erzehlet oder gespielet werden. Unter die niedrigen gehören die bürgerlichen Romane, die Schäfe- reyen, die Comödien und Pastorale nebst allen Esopischen Fabeln: als worinn nur Bürger und Landleute, ja wohl gar Thiere und Bäume in einer gemeinen Schreibart redend eingeführet oder beschrieben werden. Von diesen letztern könnte man mit einigem Scheine fragen, ob sie auch zur Poe- sie gehöreten? weil Horatius solches von der Comödie ihres niedrigen Ausdruckes halber in Zweifel gezogen:
Idcirco quidam Comoedia nec ne Poema Esset, quaesiuere: quod acer spiritus ac vis Nec verbis nec rebus inest, nisi quod pede certo Differt sermoni, sermo merus. Sat. IV. L. 1.
Wiewohl aus dem obigen ist leicht darauf zu antworten. Die hohe Schreibart ist zwar eine gute Eigenschafft eines Poeten, und in gewissen Gedichten unentbehrlich: Aber sie allein machet noch keinen Dichter, wenn keine Fabel da ist, die darinn vorgetragen wird. Diese hergegen bleibt was sie ist, nehmlich eine Fabel, ein Gedichte, wenn man sie gleich in der gemeinen Sprache erzehlt. Sie zeigt also sattsam, daß ihr Verfasser ein Dichter gewesen, der auch wohl erha- ben hätte schreiben können, wenn er gewollt hätte, und wenn es sich in dieser Art von Gedichten hätte thun lassen. Hora- tius selbst trägt diesen Zweifel wegen der Comödie nur als was fremdes vor. Einige, spricht er, haben gefragt, etc. Er giebt ihnen aber deßwegen nicht recht; zumahl er in seiner Dichtkunst selbst erinnert, daß auch in der Comödie zuweilen die pathetische, feurige und erhabene Schreibart statt finde: wenn nehmlich ein Chremes zu schelten und vor Zorn zu po- chen und zu poltern anfängt:
Interdum tamen & vocem Comoedia tollit, Iratusque Chremes tumido delitigat ore.
Die Fabeln können noch ferner in vollständige und man- gelhaffte eingetheilet werden. Jene erzehlen diejenige Be- gebenheit gantz, die zu der darunter versteckten Sittenlehre gehöret: Diese hergegen brechen ab; wenn die Begebenheit kaum in die Helfte gekommen ist. Zum Exempel einer gan-
tzen
Das IV. Capitel
Schreibart entweder erzehlet oder geſpielet werden. Unter die niedrigen gehoͤren die buͤrgerlichen Romane, die Schaͤfe- reyen, die Comoͤdien und Paſtorale nebſt allen Eſopiſchen Fabeln: als worinn nur Buͤrger und Landleute, ja wohl gar Thiere und Baͤume in einer gemeinen Schreibart redend eingefuͤhret oder beſchrieben werden. Von dieſen letztern koͤnnte man mit einigem Scheine fragen, ob ſie auch zur Poe- ſie gehoͤreten? weil Horatius ſolches von der Comoͤdie ihres niedrigen Ausdruckes halber in Zweifel gezogen:
Idcirco quidam Comoedia nec ne Poema Eſſet, quaeſiuere: quod acer ſpiritus ac vis Nec verbis nec rebus ineſt, niſi quod pede certo Differt ſermoni, ſermo merus. Sat. IV. L. 1.
Wiewohl aus dem obigen iſt leicht darauf zu antworten. Die hohe Schreibart iſt zwar eine gute Eigenſchafft eines Poeten, und in gewiſſen Gedichten unentbehrlich: Aber ſie allein machet noch keinen Dichter, wenn keine Fabel da iſt, die darinn vorgetragen wird. Dieſe hergegen bleibt was ſie iſt, nehmlich eine Fabel, ein Gedichte, wenn man ſie gleich in der gemeinen Sprache erzehlt. Sie zeigt alſo ſattſam, daß ihr Verfaſſer ein Dichter geweſen, der auch wohl erha- ben haͤtte ſchreiben koͤnnen, wenn er gewollt haͤtte, und wenn es ſich in dieſer Art von Gedichten haͤtte thun laſſen. Hora- tius ſelbſt traͤgt dieſen Zweifel wegen der Comoͤdie nur als was fremdes vor. Einige, ſpricht er, haben gefragt, ꝛc. Er giebt ihnen aber deßwegen nicht recht; zumahl er in ſeiner Dichtkunſt ſelbſt erinnert, daß auch in der Comoͤdie zuweilen die pathetiſche, feurige und erhabene Schreibart ſtatt finde: wenn nehmlich ein Chremes zu ſchelten und vor Zorn zu po- chen und zu poltern anfaͤngt:
Interdum tamen & vocem Comoedia tollit, Iratusque Chremes tumido delitigat ore.
Die Fabeln koͤnnen noch ferner in vollſtaͤndige und man- gelhaffte eingetheilet werden. Jene erzehlen diejenige Be- gebenheit gantz, die zu der darunter verſteckten Sittenlehre gehoͤret: Dieſe hergegen brechen ab; wenn die Begebenheit kaum in die Helfte gekommen iſt. Zum Exempel einer gan-
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Das IV. Capitel
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reyen, die Comoͤdien und Paſtorale nebſt allen Eſopiſchen
Fabeln: als worinn nur Buͤrger und Landleute, ja wohl gar
Thiere und Baͤume in einer gemeinen Schreibart redend
eingefuͤhret oder beſchrieben werden. Von dieſen letztern
koͤnnte man mit einigem Scheine fragen, ob ſie auch zur Poe-
ſie gehoͤreten? weil Horatius ſolches von der Comoͤdie ihres
niedrigen Ausdruckes halber in Zweifel gezogen:
Idcirco quidam Comoedia nec ne Poema
Eſſet, quaeſiuere: quod acer ſpiritus ac vis
Nec verbis nec rebus ineſt, niſi quod pede certo
Differt ſermoni, ſermo merus. Sat. IV. L. 1.
Wiewohl aus dem obigen iſt leicht darauf zu antworten.
Die hohe Schreibart iſt zwar eine gute Eigenſchafft eines
Poeten, und in gewiſſen Gedichten unentbehrlich: Aber ſie
allein machet noch keinen Dichter, wenn keine Fabel da iſt,
die darinn vorgetragen wird. Dieſe hergegen bleibt was ſie
iſt, nehmlich eine Fabel, ein Gedichte, wenn man ſie gleich
in der gemeinen Sprache erzehlt. Sie zeigt alſo ſattſam,
daß ihr Verfaſſer ein Dichter geweſen, der auch wohl erha-
ben haͤtte ſchreiben koͤnnen, wenn er gewollt haͤtte, und wenn
es ſich in dieſer Art von Gedichten haͤtte thun laſſen. Hora-
tius ſelbſt traͤgt dieſen Zweifel wegen der Comoͤdie nur als
was fremdes vor. Einige, ſpricht er, haben gefragt, ꝛc. Er
giebt ihnen aber deßwegen nicht recht; zumahl er in ſeiner
Dichtkunſt ſelbſt erinnert, daß auch in der Comoͤdie zuweilen
die pathetiſche, feurige und erhabene Schreibart ſtatt finde:
wenn nehmlich ein Chremes zu ſchelten und vor Zorn zu po-
chen und zu poltern anfaͤngt:
Interdum tamen & vocem Comoedia tollit,
Iratusque Chremes tumido delitigat ore.
Die Fabeln koͤnnen noch ferner in vollſtaͤndige und man-
gelhaffte eingetheilet werden. Jene erzehlen diejenige Be-
gebenheit gantz, die zu der darunter verſteckten Sittenlehre
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/156>, abgerufen am 16.02.2025.
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