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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Poetischen Nachahmungen.
Ton d'ar upo zugophin prosephe podas aiolos ippos,
Ksanthos - - -
Kai lien s'eti nun ge saosomen obrim Akhilleu.
Iliad. L. XIX.

Ein Exempel von meiner Erfindung steht in den vernünft.
Tadl. von dem Veilchen-Stocke, der Tulpe und der Blu-
men-Göttin Flora. Jmgleichen von dem Manne seinem
Hunde und der Katze, und im II Th. derselben vom Pferde
und Esel, wiewohl diese vielleicht unter die Wahrscheinlichen
zu zehlen sind. Endlich auch im II Th. des Biedermanns
vom Hasen der sich in den Löwenstand erheben ließ.

Ferner können die Fabeln eingetheilt werden in Epische
und Theatralische. Jene werden bloß erzehlet, und dahin
gehören nicht nur die Jlias, Odyssee und Eneis; sondern al-
le Romane, ja so gar die Esopischen Fabeln. Diese herge-
gen werden wircklich gespielet und also lebendig vorgestellt.
Dahin rechnet man also alle Tragödien-Comödien- und
Schäfer-Spiele, imgleichen alle kleinen dramatischen Ge-
dichte, die wircklich auf einer Schaubühne aufgeführt wer-
den können. Man sieht gar leicht, daß dieser andre Unter-
scheid sich auf den ersten gründe. Denn die Theatralischen
Fabeln leiden nichts als was wahrscheinlich ist, wie Hora-
tius in seiner Dichtkunst sehr fleißig erinnert: Hingegen die
Epischen können gar wohl auch unwahrscheinliche Fabeln
von Thieren und leblosen Dingen brauchen. Tausend Din-
ge lassen sich gar wohl erzehlen; aber den Augen läßt sich
nichts vorstellen als was glaublich ist. Wer das obige re-
dende Pferd des Homeri, oder Bileams Eselin auf die
Schaubühne bringen wollte: dem würde Horatz zuruffen:

Quodeumque ostendis mihi sic, incredulus odi.

Weiter können die Fabeln theils im Absehen auf ihren
Jnhalt, theils in Absicht auf die Schreibart, in hohe und nie-
drige eingetheilet werden. Unter die hohen gehören die Hel-
dengedichte, Tragödien und Staats-Romane: darinn fast
lauter Götter und Helden, Königliche und Fürstliche Per-
sonen vorkommen, deren Begebenheiten in einer edlen

Schreib-
Von den Poetiſchen Nachahmungen.
Τὸν δ᾽αρ ὑπὸ ζυγόφιν προσέφη ποδας αἴολος ἵππος,
Ξάνϑος ‒ ‒ ‒
Καὶ λιήν σ᾽ἔτι νῦν γε σαωσομεν ὄβριμ Αχιλλεῦ.
Iliad. L. XIX.

Ein Exempel von meiner Erfindung ſteht in den vernuͤnft.
Tadl. von dem Veilchen-Stocke, der Tulpe und der Blu-
men-Goͤttin Flora. Jmgleichen von dem Manne ſeinem
Hunde und der Katze, und im II Th. derſelben vom Pferde
und Eſel, wiewohl dieſe vielleicht unter die Wahrſcheinlichen
zu zehlen ſind. Endlich auch im II Th. des Biedermanns
vom Haſen der ſich in den Loͤwenſtand erheben ließ.

Ferner koͤnnen die Fabeln eingetheilt werden in Epiſche
und Theatraliſche. Jene werden bloß erzehlet, und dahin
gehoͤren nicht nur die Jlias, Odyſſee und Eneis; ſondern al-
le Romane, ja ſo gar die Eſopiſchen Fabeln. Dieſe herge-
gen werden wircklich geſpielet und alſo lebendig vorgeſtellt.
Dahin rechnet man alſo alle Tragoͤdien-Comoͤdien- und
Schaͤfer-Spiele, imgleichen alle kleinen dramatiſchen Ge-
dichte, die wircklich auf einer Schaubuͤhne aufgefuͤhrt wer-
den koͤnnen. Man ſieht gar leicht, daß dieſer andre Unter-
ſcheid ſich auf den erſten gruͤnde. Denn die Theatraliſchen
Fabeln leiden nichts als was wahrſcheinlich iſt, wie Hora-
tius in ſeiner Dichtkunſt ſehr fleißig erinnert: Hingegen die
Epiſchen koͤnnen gar wohl auch unwahrſcheinliche Fabeln
von Thieren und lebloſen Dingen brauchen. Tauſend Din-
ge laſſen ſich gar wohl erzehlen; aber den Augen laͤßt ſich
nichts vorſtellen als was glaublich iſt. Wer das obige re-
dende Pferd des Homeri, oder Bileams Eſelin auf die
Schaubuͤhne bringen wollte: dem wuͤrde Horatz zuruffen:

Quodeumque oſtendis mihi ſic, incredulus odi.

Weiter koͤnnen die Fabeln theils im Abſehen auf ihren
Jnhalt, theils in Abſicht auf die Schreibart, in hohe und nie-
drige eingetheilet werden. Unter die hohen gehoͤren die Hel-
dengedichte, Tragoͤdien und Staats-Romane: darinn faſt
lauter Goͤtter und Helden, Koͤnigliche und Fuͤrſtliche Per-
ſonen vorkommen, deren Begebenheiten in einer edlen

Schreib-
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[127/0155] Von den Poetiſchen Nachahmungen. Τὸν δ᾽αρ ὑπὸ ζυγόφιν προσέφη ποδας αἴολος ἵππος, Ξάνϑος ‒ ‒ ‒ Καὶ λιήν σ᾽ἔτι νῦν γε σαωσομεν ὄβριμ Αχιλλεῦ. Iliad. L. XIX. Ein Exempel von meiner Erfindung ſteht in den vernuͤnft. Tadl. von dem Veilchen-Stocke, der Tulpe und der Blu- men-Goͤttin Flora. Jmgleichen von dem Manne ſeinem Hunde und der Katze, und im II Th. derſelben vom Pferde und Eſel, wiewohl dieſe vielleicht unter die Wahrſcheinlichen zu zehlen ſind. Endlich auch im II Th. des Biedermanns vom Haſen der ſich in den Loͤwenſtand erheben ließ. Ferner koͤnnen die Fabeln eingetheilt werden in Epiſche und Theatraliſche. Jene werden bloß erzehlet, und dahin gehoͤren nicht nur die Jlias, Odyſſee und Eneis; ſondern al- le Romane, ja ſo gar die Eſopiſchen Fabeln. Dieſe herge- gen werden wircklich geſpielet und alſo lebendig vorgeſtellt. Dahin rechnet man alſo alle Tragoͤdien-Comoͤdien- und Schaͤfer-Spiele, imgleichen alle kleinen dramatiſchen Ge- dichte, die wircklich auf einer Schaubuͤhne aufgefuͤhrt wer- den koͤnnen. Man ſieht gar leicht, daß dieſer andre Unter- ſcheid ſich auf den erſten gruͤnde. Denn die Theatraliſchen Fabeln leiden nichts als was wahrſcheinlich iſt, wie Hora- tius in ſeiner Dichtkunſt ſehr fleißig erinnert: Hingegen die Epiſchen koͤnnen gar wohl auch unwahrſcheinliche Fabeln von Thieren und lebloſen Dingen brauchen. Tauſend Din- ge laſſen ſich gar wohl erzehlen; aber den Augen laͤßt ſich nichts vorſtellen als was glaublich iſt. Wer das obige re- dende Pferd des Homeri, oder Bileams Eſelin auf die Schaubuͤhne bringen wollte: dem wuͤrde Horatz zuruffen: Quodeumque oſtendis mihi ſic, incredulus odi. Weiter koͤnnen die Fabeln theils im Abſehen auf ihren Jnhalt, theils in Abſicht auf die Schreibart, in hohe und nie- drige eingetheilet werden. Unter die hohen gehoͤren die Hel- dengedichte, Tragoͤdien und Staats-Romane: darinn faſt lauter Goͤtter und Helden, Koͤnigliche und Fuͤrſtliche Per- ſonen vorkommen, deren Begebenheiten in einer edlen Schreib-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/155>, abgerufen am 29.03.2024.