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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Poetischen Nachahmungen.
tzen oder vollständigen können alle die obigen dienen, die wir
schon angeführet haben: denn die Erzehlung geht daselbst
so weit als nöthig ist, und das Gemüthe bleibt am Ende der-
selben gantz ruhig; weil man den Zweck einsieht, warum sie
erzehlet worden. Eine mangelhaffte und halbe Fabel aber
war jene, die Demosthenes seinen Mitbürgern erzehlte, als
sie in einer wichtigen Rede, so die Wohlfahrt ihres Staats
anbetraf, sehr unachtsam waren. Denn als er ihnen die
Helfte davon erzehlet hatte, und sie alle aus ihrer vorigen
Nachläßigkeit ermuntert und begierig worden waren, den
völligen Verlauf seiner Geschicht zu vernehmen; hörte er
mit gutem Bedachte auf, schwieg stille und wollte sich aus der
Versammlung begeben. Weil aber die Fabel nur halb
fertig war, konnten sich die Zuhörer dadurch nicht zufrieden
stellen; darum riefen sie ihn zurücke, und verlangten, daß
er ihnen auch den Ausgang der gantzen Begebenheit erzehlen
sollte: Wobey er denn Gelegenheit nahm, ihnen ihre Leicht-
sinnigkeit vorzurücken, die sich um Kleinigkeiten so ernstlich,
um die wichtigsten Dinge aber, so er in seiner Rede vorge-
tragen, so wenig bekümmert und aufmercksam bezeigete.

Bey dieser Abtheilung der Fabeln muß man sich vor
einem Misverstande hüten. Eine gantze Fabel erfordert nicht
allemahl den völligen Umfang aller Begebenheiten, die eini-
gen Zusammenhang mit einander haben; sondern es ist ge-
nug, daß sie alles dasjenige enthält, was zu der Sittenlehre,
die man vortragen will, unentbehrlich ist. Z. E. Die Jlias
Homeri, ist eine Fabel vom Zorne Achillis, und den trauri-
gen Wirckungen desselben. Daher ist diese Fabel gantz,
wenn der Poet zeigt, wie und woher dieser Zorn entstanden,
nehmlich von der Beleidigung die Agamemnon diesem Hel-
den zugefügt; ferner wie sich derselbe geäussert, nehmlich
durch die Enthaltung vom Streite, da Achilles ruhig auf
seinem Schiffe blieb; weiter wie schädlich derselbe gewesen,
weil die Griechen in seiner Abwesenheit allezeit den kürtzern
gezogen, Achilles selbst aber seinen besten Freund Patroclus
eingebüsset: Endlich wie dieser Zorn ein Ende genommen,
da der Held aus Rachgier gegen den Hector seines alten

Grolls
J

Von den Poetiſchen Nachahmungen.
tzen oder vollſtaͤndigen koͤnnen alle die obigen dienen, die wir
ſchon angefuͤhret haben: denn die Erzehlung geht daſelbſt
ſo weit als noͤthig iſt, und das Gemuͤthe bleibt am Ende der-
ſelben gantz ruhig; weil man den Zweck einſieht, warum ſie
erzehlet worden. Eine mangelhaffte und halbe Fabel aber
war jene, die Demoſthenes ſeinen Mitbuͤrgern erzehlte, als
ſie in einer wichtigen Rede, ſo die Wohlfahrt ihres Staats
anbetraf, ſehr unachtſam waren. Denn als er ihnen die
Helfte davon erzehlet hatte, und ſie alle aus ihrer vorigen
Nachlaͤßigkeit ermuntert und begierig worden waren, den
voͤlligen Verlauf ſeiner Geſchicht zu vernehmen; hoͤrte er
mit gutem Bedachte auf, ſchwieg ſtille und wollte ſich aus der
Verſammlung begeben. Weil aber die Fabel nur halb
fertig war, konnten ſich die Zuhoͤrer dadurch nicht zufrieden
ſtellen; darum riefen ſie ihn zuruͤcke, und verlangten, daß
er ihnen auch den Ausgang der gantzen Begebenheit erzehlen
ſollte: Wobey er denn Gelegenheit nahm, ihnen ihre Leicht-
ſinnigkeit vorzuruͤcken, die ſich um Kleinigkeiten ſo ernſtlich,
um die wichtigſten Dinge aber, ſo er in ſeiner Rede vorge-
tragen, ſo wenig bekuͤmmert und aufmerckſam bezeigete.

Bey dieſer Abtheilung der Fabeln muß man ſich vor
einem Misverſtande huͤten. Eine gantze Fabel erfordert nicht
allemahl den voͤlligen Umfang aller Begebenheiten, die eini-
gen Zuſammenhang mit einander haben; ſondern es iſt ge-
nug, daß ſie alles dasjenige enthaͤlt, was zu der Sittenlehre,
die man vortragen will, unentbehrlich iſt. Z. E. Die Jlias
Homeri, iſt eine Fabel vom Zorne Achillis, und den trauri-
gen Wirckungen deſſelben. Daher iſt dieſe Fabel gantz,
wenn der Poet zeigt, wie und woher dieſer Zorn entſtanden,
nehmlich von der Beleidigung die Agamemnon dieſem Hel-
den zugefuͤgt; ferner wie ſich derſelbe geaͤuſſert, nehmlich
durch die Enthaltung vom Streite, da Achilles ruhig auf
ſeinem Schiffe blieb; weiter wie ſchaͤdlich derſelbe geweſen,
weil die Griechen in ſeiner Abweſenheit allezeit den kuͤrtzern
gezogen, Achilles ſelbſt aber ſeinen beſten Freund Patroclus
eingebuͤſſet: Endlich wie dieſer Zorn ein Ende genommen,
da der Held aus Rachgier gegen den Hector ſeines alten

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[129/0157] Von den Poetiſchen Nachahmungen. tzen oder vollſtaͤndigen koͤnnen alle die obigen dienen, die wir ſchon angefuͤhret haben: denn die Erzehlung geht daſelbſt ſo weit als noͤthig iſt, und das Gemuͤthe bleibt am Ende der- ſelben gantz ruhig; weil man den Zweck einſieht, warum ſie erzehlet worden. Eine mangelhaffte und halbe Fabel aber war jene, die Demoſthenes ſeinen Mitbuͤrgern erzehlte, als ſie in einer wichtigen Rede, ſo die Wohlfahrt ihres Staats anbetraf, ſehr unachtſam waren. Denn als er ihnen die Helfte davon erzehlet hatte, und ſie alle aus ihrer vorigen Nachlaͤßigkeit ermuntert und begierig worden waren, den voͤlligen Verlauf ſeiner Geſchicht zu vernehmen; hoͤrte er mit gutem Bedachte auf, ſchwieg ſtille und wollte ſich aus der Verſammlung begeben. Weil aber die Fabel nur halb fertig war, konnten ſich die Zuhoͤrer dadurch nicht zufrieden ſtellen; darum riefen ſie ihn zuruͤcke, und verlangten, daß er ihnen auch den Ausgang der gantzen Begebenheit erzehlen ſollte: Wobey er denn Gelegenheit nahm, ihnen ihre Leicht- ſinnigkeit vorzuruͤcken, die ſich um Kleinigkeiten ſo ernſtlich, um die wichtigſten Dinge aber, ſo er in ſeiner Rede vorge- tragen, ſo wenig bekuͤmmert und aufmerckſam bezeigete. Bey dieſer Abtheilung der Fabeln muß man ſich vor einem Misverſtande huͤten. Eine gantze Fabel erfordert nicht allemahl den voͤlligen Umfang aller Begebenheiten, die eini- gen Zuſammenhang mit einander haben; ſondern es iſt ge- nug, daß ſie alles dasjenige enthaͤlt, was zu der Sittenlehre, die man vortragen will, unentbehrlich iſt. Z. E. Die Jlias Homeri, iſt eine Fabel vom Zorne Achillis, und den trauri- gen Wirckungen deſſelben. Daher iſt dieſe Fabel gantz, wenn der Poet zeigt, wie und woher dieſer Zorn entſtanden, nehmlich von der Beleidigung die Agamemnon dieſem Hel- den zugefuͤgt; ferner wie ſich derſelbe geaͤuſſert, nehmlich durch die Enthaltung vom Streite, da Achilles ruhig auf ſeinem Schiffe blieb; weiter wie ſchaͤdlich derſelbe geweſen, weil die Griechen in ſeiner Abweſenheit allezeit den kuͤrtzern gezogen, Achilles ſelbſt aber ſeinen beſten Freund Patroclus eingebuͤſſet: Endlich wie dieſer Zorn ein Ende genommen, da der Held aus Rachgier gegen den Hector ſeines alten Grolls J

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/157>, abgerufen am 24.11.2024.