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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IV. Capitel
angespannter Wagen fähret, und eine Fliege die daran sitzt
so viel Verstand hat, daß sie über den rings um aufsteigenden
Staub ihre Betrachtungen anstellen kan: So geht es gar
wohl an, daß sie so eitel seyn, und sich selbst vor die Ursache
einer so großen Staubwolcke ansehen kan. Die moralische
Lehre endlich, die darunter verborgen liegt, ist diese: Ein
Stoltzer ist so thöricht, daß er sich selbst und seinen Verdien-
sten Dinge zuschreibt, die von gantz andern Ursachen herrüh-
ren und seine Kräffte unzehliche mahl übersteigen.

Man kan die Fäbeln eintheilen in unwahrscheinliche,
wahrscheinliche und vermischte. Jene sind die, wo man un-
vernünftige Thiere oder wohl gar leblose Dinge so reden und
handeln läßt als wenn sie mit menschlicher Vernunft begabt
wären. Ein Exempel davon finden wir so gar in der
Schrifft, wo Abimelechs Bruder im Buche der Richter sei-
nen Landsleuten erzehlet, wie die Bäume sich einen König er-
wehlet, der sie mit Feuer verzehret, und also, ihrer thörichten
Wahl halber, sattsam bestrafet hätte. Die andre Art sind
die wahrscheinlichen Fabeln, wo lauter Menschen und andre
vernünftige Wesen vorkommen; bey denen es nichts un-
glaubliches ist, daß sie mit Verstande reden und handeln kön-
nen. Dergleichen ist abermahl in der Schrifft die Fabel
Nathans vom reichen und armen Manne, deren jener diesen
seines einzigen geliebten Schäfleins beraubet: imgleichen die
Fabel vom verlohrnen Sohne, vom armen Lazarus u. d. gl.
Die dritte Art, nehmlich der vermischten Fabeln entsteht,
wenn darinn theils unvernünftige, theils vernünftige Dinge
redend und handelnd vorkommen. Dergleichen würde die
Begebenheit Bileams mit seiner Eselin seyn, wenn dieses
nicht wircklich geschehen seyn sollte. Wir finden aber in den
Esopischen Fabeln unzehliche solche, wo theils vernünftige
Menschen, theils Thiere und Bäume aufgeführet werden:
zugeschweigen daß Homerus in seiner Jlias einmahl ein
Pferd mit seinem Herrn hat reden lassen:

Ton

Das IV. Capitel
angeſpannter Wagen faͤhret, und eine Fliege die daran ſitzt
ſo viel Verſtand hat, daß ſie uͤber den rings um aufſteigenden
Staub ihre Betrachtungen anſtellen kan: So geht es gar
wohl an, daß ſie ſo eitel ſeyn, und ſich ſelbſt vor die Urſache
einer ſo großen Staubwolcke anſehen kan. Die moraliſche
Lehre endlich, die darunter verborgen liegt, iſt dieſe: Ein
Stoltzer iſt ſo thoͤricht, daß er ſich ſelbſt und ſeinen Verdien-
ſten Dinge zuſchreibt, die von gantz andern Urſachen herruͤh-
ren und ſeine Kraͤffte unzehliche mahl uͤberſteigen.

Man kan die Faͤbeln eintheilen in unwahrſcheinliche,
wahrſcheinliche und vermiſchte. Jene ſind die, wo man un-
vernuͤnftige Thiere oder wohl gar lebloſe Dinge ſo reden und
handeln laͤßt als wenn ſie mit menſchlicher Vernunft begabt
waͤren. Ein Exempel davon finden wir ſo gar in der
Schrifft, wo Abimelechs Bruder im Buche der Richter ſei-
nen Landsleuten erzehlet, wie die Baͤume ſich einen Koͤnig er-
wehlet, der ſie mit Feuer verzehret, und alſo, ihrer thoͤrichten
Wahl halber, ſattſam beſtrafet haͤtte. Die andre Art ſind
die wahrſcheinlichen Fabeln, wo lauter Menſchen und andre
vernuͤnftige Weſen vorkommen; bey denen es nichts un-
glaubliches iſt, daß ſie mit Verſtande reden und handeln koͤn-
nen. Dergleichen iſt abermahl in der Schrifft die Fabel
Nathans vom reichen und armen Manne, deren jener dieſen
ſeines einzigen geliebten Schaͤfleins beraubet: imgleichen die
Fabel vom verlohrnen Sohne, vom armen Lazarus u. d. gl.
Die dritte Art, nehmlich der vermiſchten Fabeln entſteht,
wenn darinn theils unvernuͤnftige, theils vernuͤnftige Dinge
redend und handelnd vorkommen. Dergleichen wuͤrde die
Begebenheit Bileams mit ſeiner Eſelin ſeyn, wenn dieſes
nicht wircklich geſchehen ſeyn ſollte. Wir finden aber in den
Eſopiſchen Fabeln unzehliche ſolche, wo theils vernuͤnftige
Menſchen, theils Thiere und Baͤume aufgefuͤhret werden:
zugeſchweigen daß Homerus in ſeiner Jlias einmahl ein
Pferd mit ſeinem Herrn hat reden laſſen:

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[126/0154] Das IV. Capitel angeſpannter Wagen faͤhret, und eine Fliege die daran ſitzt ſo viel Verſtand hat, daß ſie uͤber den rings um aufſteigenden Staub ihre Betrachtungen anſtellen kan: So geht es gar wohl an, daß ſie ſo eitel ſeyn, und ſich ſelbſt vor die Urſache einer ſo großen Staubwolcke anſehen kan. Die moraliſche Lehre endlich, die darunter verborgen liegt, iſt dieſe: Ein Stoltzer iſt ſo thoͤricht, daß er ſich ſelbſt und ſeinen Verdien- ſten Dinge zuſchreibt, die von gantz andern Urſachen herruͤh- ren und ſeine Kraͤffte unzehliche mahl uͤberſteigen. Man kan die Faͤbeln eintheilen in unwahrſcheinliche, wahrſcheinliche und vermiſchte. Jene ſind die, wo man un- vernuͤnftige Thiere oder wohl gar lebloſe Dinge ſo reden und handeln laͤßt als wenn ſie mit menſchlicher Vernunft begabt waͤren. Ein Exempel davon finden wir ſo gar in der Schrifft, wo Abimelechs Bruder im Buche der Richter ſei- nen Landsleuten erzehlet, wie die Baͤume ſich einen Koͤnig er- wehlet, der ſie mit Feuer verzehret, und alſo, ihrer thoͤrichten Wahl halber, ſattſam beſtrafet haͤtte. Die andre Art ſind die wahrſcheinlichen Fabeln, wo lauter Menſchen und andre vernuͤnftige Weſen vorkommen; bey denen es nichts un- glaubliches iſt, daß ſie mit Verſtande reden und handeln koͤn- nen. Dergleichen iſt abermahl in der Schrifft die Fabel Nathans vom reichen und armen Manne, deren jener dieſen ſeines einzigen geliebten Schaͤfleins beraubet: imgleichen die Fabel vom verlohrnen Sohne, vom armen Lazarus u. d. gl. Die dritte Art, nehmlich der vermiſchten Fabeln entſteht, wenn darinn theils unvernuͤnftige, theils vernuͤnftige Dinge redend und handelnd vorkommen. Dergleichen wuͤrde die Begebenheit Bileams mit ſeiner Eſelin ſeyn, wenn dieſes nicht wircklich geſchehen ſeyn ſollte. Wir finden aber in den Eſopiſchen Fabeln unzehliche ſolche, wo theils vernuͤnftige Menſchen, theils Thiere und Baͤume aufgefuͤhret werden: zugeſchweigen daß Homerus in ſeiner Jlias einmahl ein Pferd mit ſeinem Herrn hat reden laſſen: Τὸν

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/154>, abgerufen am 21.11.2024.