allegorische Handlung verhanden: So würde man antwor- ten, daß nach seinem eigenen Geständnisse nicht zu allen Fa- beln eine Handlung nöthig sey, wie er denn selbst in folgenden dergleichen anführet; nehmlich da die Fliege an dem Rade eines großen und schleunig fortgezognen Wagens sitzt, selbst nichts thut, sondern nur sagt: Ey welch einen großen Staub mache ich nicht!
Jch glaube derowegen eine Fabel am besten zu beschrei- ben, wenn ich sage: Sie sey eine unter gewissen Umständen mögliche, aber nicht wircklich vorgefallene Begebenheit, dar- unter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt. Philosophisch könnte man sagen, sie sey ein Stücke aus ei- ner andern Welt. Denn da man sich in der Metaphysick die Welt als eine Reyhe möglicher Dinge vorstellen muß; ausser derjenigen aber, die wir wircklich vor Augen sehen, noch viel andre dergleichen Reyhen gedacht werden können: So sieht man, daß eigentlich alle Begebenheiten die in un- serm Zusammenhange wircklich verhandener Dinge nicht ge- schehen, an sich selbst aber nichts wiedersprechendes in sich haben, und also unter gewissen Bedingungen möglich sind; in einer andern Welt zu Hause gehören, und Theile davon ausmachen. Herr Wolf, hat selbst wo mir recht ist, an ei- nem gewissen Orte seiner philosophischen Schrifften gesagt, daß ein wohlgeschriebener Roman, das ist ein solcher der nichts wiedersprechendes enthält, vor eine Historie aus einer andern Welt anzusehen sey. Was er von Romanen sagt, das kan mit gleichem Rechte von allen Fabeln gesagt werden. Weil aber diese Erklärung unphilosophischen Köpfen viel- leicht Schwierigkeiten machen könnte: So bleibe ich bey der ersten, die nach dem gemeinen Begriffe aller die nur deutsch verstehen, eingerichtet ist. Jch erläutere sie durch das bereits erwehnte Exempel. Die Begebenheit ist daselbst, daß ein großer Wagen auf einem staubigten Wege, von vier oder mehr hurtigen Pferden geschwinde hingerissen wird; Eine Fliege an dem Rade desselben sitzet, und sich schmeichelt sie habe allen diesen Staub erreget. Diese Begebenheit ist un- ter gewissen Umständen möglich. Wenn nehmlich nur ein
an-
Von den Poetiſchen Nachahmungen.
allegoriſche Handlung verhanden: So wuͤrde man antwor- ten, daß nach ſeinem eigenen Geſtaͤndniſſe nicht zu allen Fa- beln eine Handlung noͤthig ſey, wie er denn ſelbſt in folgenden dergleichen anfuͤhret; nehmlich da die Fliege an dem Rade eines großen und ſchleunig fortgezognen Wagens ſitzt, ſelbſt nichts thut, ſondern nur ſagt: Ey welch einen großen Staub mache ich nicht!
Jch glaube derowegen eine Fabel am beſten zu beſchrei- ben, wenn ich ſage: Sie ſey eine unter gewiſſen Umſtaͤnden moͤgliche, aber nicht wircklich vorgefallene Begebenheit, dar- unter eine nuͤtzliche moraliſche Wahrheit verborgen liegt. Philoſophiſch koͤnnte man ſagen, ſie ſey ein Stuͤcke aus ei- ner andern Welt. Denn da man ſich in der Metaphyſick die Welt als eine Reyhe moͤglicher Dinge vorſtellen muß; auſſer derjenigen aber, die wir wircklich vor Augen ſehen, noch viel andre dergleichen Reyhen gedacht werden koͤnnen: So ſieht man, daß eigentlich alle Begebenheiten die in un- ſerm Zuſammenhange wircklich verhandener Dinge nicht ge- ſchehen, an ſich ſelbſt aber nichts wiederſprechendes in ſich haben, und alſo unter gewiſſen Bedingungen moͤglich ſind; in einer andern Welt zu Hauſe gehoͤren, und Theile davon ausmachen. Herr Wolf, hat ſelbſt wo mir recht iſt, an ei- nem gewiſſen Orte ſeiner philoſophiſchen Schrifften geſagt, daß ein wohlgeſchriebener Roman, das iſt ein ſolcher der nichts wiederſprechendes enthaͤlt, vor eine Hiſtorie aus einer andern Welt anzuſehen ſey. Was er von Romanen ſagt, das kan mit gleichem Rechte von allen Fabeln geſagt werden. Weil aber dieſe Erklaͤrung unphiloſophiſchen Koͤpfen viel- leicht Schwierigkeiten machen koͤnnte: So bleibe ich bey der erſten, die nach dem gemeinen Begriffe aller die nur deutſch verſtehen, eingerichtet iſt. Jch erlaͤutere ſie durch das bereits erwehnte Exempel. Die Begebenheit iſt daſelbſt, daß ein großer Wagen auf einem ſtaubigten Wege, von vier oder mehr hurtigen Pferden geſchwinde hingeriſſen wird; Eine Fliege an dem Rade deſſelben ſitzet, und ſich ſchmeichelt ſie habe allen dieſen Staub erreget. Dieſe Begebenheit iſt un- ter gewiſſen Umſtaͤnden moͤglich. Wenn nehmlich nur ein
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Von den Poetiſchen Nachahmungen.
allegoriſche Handlung verhanden: So wuͤrde man antwor-
ten, daß nach ſeinem eigenen Geſtaͤndniſſe nicht zu allen Fa-
beln eine Handlung noͤthig ſey, wie er denn ſelbſt in folgenden
dergleichen anfuͤhret; nehmlich da die Fliege an dem Rade
eines großen und ſchleunig fortgezognen Wagens ſitzt, ſelbſt
nichts thut, ſondern nur ſagt: Ey welch einen großen
Staub mache ich nicht!
Jch glaube derowegen eine Fabel am beſten zu beſchrei-
ben, wenn ich ſage: Sie ſey eine unter gewiſſen Umſtaͤnden
moͤgliche, aber nicht wircklich vorgefallene Begebenheit, dar-
unter eine nuͤtzliche moraliſche Wahrheit verborgen liegt.
Philoſophiſch koͤnnte man ſagen, ſie ſey ein Stuͤcke aus ei-
ner andern Welt. Denn da man ſich in der Metaphyſick
die Welt als eine Reyhe moͤglicher Dinge vorſtellen muß;
auſſer derjenigen aber, die wir wircklich vor Augen ſehen,
noch viel andre dergleichen Reyhen gedacht werden koͤnnen:
So ſieht man, daß eigentlich alle Begebenheiten die in un-
ſerm Zuſammenhange wircklich verhandener Dinge nicht ge-
ſchehen, an ſich ſelbſt aber nichts wiederſprechendes in ſich
haben, und alſo unter gewiſſen Bedingungen moͤglich ſind;
in einer andern Welt zu Hauſe gehoͤren, und Theile davon
ausmachen. Herr Wolf, hat ſelbſt wo mir recht iſt, an ei-
nem gewiſſen Orte ſeiner philoſophiſchen Schrifften geſagt,
daß ein wohlgeſchriebener Roman, das iſt ein ſolcher der
nichts wiederſprechendes enthaͤlt, vor eine Hiſtorie aus einer
andern Welt anzuſehen ſey. Was er von Romanen ſagt,
das kan mit gleichem Rechte von allen Fabeln geſagt werden.
Weil aber dieſe Erklaͤrung unphiloſophiſchen Koͤpfen viel-
leicht Schwierigkeiten machen koͤnnte: So bleibe ich bey der
erſten, die nach dem gemeinen Begriffe aller die nur deutſch
verſtehen, eingerichtet iſt. Jch erlaͤutere ſie durch das bereits
erwehnte Exempel. Die Begebenheit iſt daſelbſt, daß ein
großer Wagen auf einem ſtaubigten Wege, von vier oder
mehr hurtigen Pferden geſchwinde hingeriſſen wird; Eine
Fliege an dem Rade deſſelben ſitzet, und ſich ſchmeichelt ſie
habe allen dieſen Staub erreget. Dieſe Begebenheit iſt un-
ter gewiſſen Umſtaͤnden moͤglich. Wenn nehmlich nur ein
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/153>, abgerufen am 21.11.2024.
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