Gedichte. Und wer die Fähigkeit nicht besitzt gute Fabeln zu erfinden, der verdient den Nahmen eines Poeten nicht: wenn er gleich die schönsten Verße von der Welt machte. Phädrus ist derowegen wohl ein Versmacher, aber kein Dichter gewesen: maßen er zwar die Esopischen Fabeln in Verße gebracht, aber selbst keine erfunden hat.
Wenn Aristoteles sagen will was die Fabel in einem Gedichte eigentlich sey, so spricht er: Es sey die Zusammen- setzung oder Verbindung der Sachen. Der Pater Bos- su in seinem Tracat vom Heldengedichte, läßt sich an dieser Erklärung gnügen, und versteht durch die Sachen, so in ei- ner Fabel verbunden werden sollen, das Wahre und das Falsche. Jn der That muß eine jede Fabel was wahres und was falsches in sich haben: nehmlich einen moralischen Lehrsatz, der gewiß wahr seyn muß; und eine Einkleidung desselben in eine gewisse Begebenheit, die sich aber niemahls zugetragen hat, und also falsch ist. Allein er scheint mir den Verstand des Philosophen nicht recht eingesehen zu haben. Die Sachen müssen auf das Zubehör der Fabel, als da sind, die Thiere, Menschen, Götter, Handlungen, Gespräche, u. s. w. gedeutet werden. Diese Dinge müssen verknüpfet und verbunden werden, so daß sie einen Zusammenhang be- kommen, und alsdann entsteht eine Fabel daraus. Hätte dieses Bossu gesehen, so würde er es nicht nöthig gehabt ha- ben, eine andre Beschreibung davon zu geben, die noch weni- ger Stich hält, als die obige. Denn da er sagt: Die Fa- bel sey eine Rede, welche unter den Allegorien einer Hand- lung ihre Lehren verbirget, und zu Besserung der Sit- ten ersonnen worden: So ist bey dieser Erklärung sehr viel zu erinnern. Denn zu geschweigen daß die Fabel nicht nur eine Rede, sondern auch eine Schrifft seyn kan; so machen ja nicht alle Allegorien die da lehrreich und unterrichtend sind, eine Fabel aus. Die Ode Horatii ist bekannt, wo der Poet die Römische Republic unter dem Bilde eines Schiffes an- redet, und ihr viel heylsame Regeln, in einer beständigen allegorischen Rede giebt. Wer hat aber diese Ode jemahls zu den Fabeln gezehlet? Wollte man sagen, hier wäre keine
alle-
Das IV. Capitel
Gedichte. Und wer die Faͤhigkeit nicht beſitzt gute Fabeln zu erfinden, der verdient den Nahmen eines Poeten nicht: wenn er gleich die ſchoͤnſten Verße von der Welt machte. Phaͤdrus iſt derowegen wohl ein Versmacher, aber kein Dichter geweſen: maßen er zwar die Eſopiſchen Fabeln in Verße gebracht, aber ſelbſt keine erfunden hat.
Wenn Ariſtoteles ſagen will was die Fabel in einem Gedichte eigentlich ſey, ſo ſpricht er: Es ſey die Zuſammen- ſetzung oder Verbindung der Sachen. Der Pater Boſ- ſu in ſeinem Tracat vom Heldengedichte, laͤßt ſich an dieſer Erklaͤrung gnuͤgen, und verſteht durch die Sachen, ſo in ei- ner Fabel verbunden werden ſollen, das Wahre und das Falſche. Jn der That muß eine jede Fabel was wahres und was falſches in ſich haben: nehmlich einen moraliſchen Lehrſatz, der gewiß wahr ſeyn muß; und eine Einkleidung deſſelben in eine gewiſſe Begebenheit, die ſich aber niemahls zugetragen hat, und alſo falſch iſt. Allein er ſcheint mir den Verſtand des Philoſophen nicht recht eingeſehen zu haben. Die Sachen muͤſſen auf das Zubehoͤr der Fabel, als da ſind, die Thiere, Menſchen, Goͤtter, Handlungen, Geſpraͤche, u. ſ. w. gedeutet werden. Dieſe Dinge muͤſſen verknuͤpfet und verbunden werden, ſo daß ſie einen Zuſammenhang be- kommen, und alsdann entſteht eine Fabel daraus. Haͤtte dieſes Boſſu geſehen, ſo wuͤrde er es nicht noͤthig gehabt ha- ben, eine andre Beſchreibung davon zu geben, die noch weni- ger Stich haͤlt, als die obige. Denn da er ſagt: Die Fa- bel ſey eine Rede, welche unter den Allegorien einer Hand- lung ihre Lehren verbirget, und zu Beſſerung der Sit- ten erſonnen worden: So iſt bey dieſer Erklaͤrung ſehr viel zu erinnern. Denn zu geſchweigen daß die Fabel nicht nur eine Rede, ſondern auch eine Schrifft ſeyn kan; ſo machen ja nicht alle Allegorien die da lehrreich und unterrichtend ſind, eine Fabel aus. Die Ode Horatii iſt bekannt, wo der Poet die Roͤmiſche Republic unter dem Bilde eines Schiffes an- redet, und ihr viel heylſame Regeln, in einer beſtaͤndigen allegoriſchen Rede giebt. Wer hat aber dieſe Ode jemahls zu den Fabeln gezehlet? Wollte man ſagen, hier waͤre keine
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Das IV. Capitel
Gedichte. Und wer die Faͤhigkeit nicht beſitzt gute Fabeln zu
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Phaͤdrus iſt derowegen wohl ein Versmacher, aber kein
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Verße gebracht, aber ſelbſt keine erfunden hat.
Wenn Ariſtoteles ſagen will was die Fabel in einem
Gedichte eigentlich ſey, ſo ſpricht er: Es ſey die Zuſammen-
ſetzung oder Verbindung der Sachen. Der Pater Boſ-
ſu in ſeinem Tracat vom Heldengedichte, laͤßt ſich an dieſer
Erklaͤrung gnuͤgen, und verſteht durch die Sachen, ſo in ei-
ner Fabel verbunden werden ſollen, das Wahre und das
Falſche. Jn der That muß eine jede Fabel was wahres
und was falſches in ſich haben: nehmlich einen moraliſchen
Lehrſatz, der gewiß wahr ſeyn muß; und eine Einkleidung
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zugetragen hat, und alſo falſch iſt. Allein er ſcheint mir den
Verſtand des Philoſophen nicht recht eingeſehen zu haben.
Die Sachen muͤſſen auf das Zubehoͤr der Fabel, als da ſind,
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dieſes Boſſu geſehen, ſo wuͤrde er es nicht noͤthig gehabt ha-
ben, eine andre Beſchreibung davon zu geben, die noch weni-
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bel ſey eine Rede, welche unter den Allegorien einer Hand-
lung ihre Lehren verbirget, und zu Beſſerung der Sit-
ten erſonnen worden: So iſt bey dieſer Erklaͤrung ſehr viel
zu erinnern. Denn zu geſchweigen daß die Fabel nicht nur
eine Rede, ſondern auch eine Schrifft ſeyn kan; ſo machen
ja nicht alle Allegorien die da lehrreich und unterrichtend ſind,
eine Fabel aus. Die Ode Horatii iſt bekannt, wo der Poet
die Roͤmiſche Republic unter dem Bilde eines Schiffes an-
redet, und ihr viel heylſame Regeln, in einer beſtaͤndigen
allegoriſchen Rede giebt. Wer hat aber dieſe Ode jemahls
zu den Fabeln gezehlet? Wollte man ſagen, hier waͤre keine
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/152>, abgerufen am 16.02.2025.
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