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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Poetischen Nachahmungen.
oder diese in jenen nachahmen muß. Ohne diese wird man
unfehlbar in den Fehler verfallen, den dort Canitz an den mei-
sten unsrer Poeten tadelt, wenn er den Virgil als einen glück-
lichen Nachahmer der Natur im Absehen auf den Character
der Dido erhebet. Es heißt:

Man redt und schreibt nicht mehr was sich zur Sache schicket,
Es wird nach der Natur kein Einfall ausgedrücket,
Der Bogen ist gefüllt, eh man an sie gedacht;
Was groß ist, das wird klein, was klein ist, groß gemacht:
Da doch ein jeder weiß, daß in den Schildereyen,
Nur bloß die Aehnlichkeit das Auge kan erfreuen,
Und eines Zwerges Bild die Artigkeit verliert,
Wenn es wird in Gestalt der Riesen aufgeführt.
Wir lesen ja mit Lust Aeneas Abentheuer:
Warum? Stößt ihm zur Hand ein grimmig Ungeheuer;
So hat es sein Virgil, so künstlich vorgestellt,
Daß uns, ich weiß nicht wie, ein Schrecken überfällt:
Und hör ich Dido dort von Schimpf und Undanck sprechen,
So möcht ich ihren Hohn an den Trojanern rächen.
So künstlich trifft itzund kein Dichter die Natur,
Sie ist ihm viel zu schlecht: Er sucht ihm fremde Spur,
Geußt solche Thränen aus, die lachenswürdig scheinen,
Und wenn er lachen will, so möchten andre weinen.

Doch auch diese so schwere Gattung der Nachahmung ma-
chet nicht das Hauptwerck in der Poesie aus. Die Fabel
ist hauptsächlich dasjenige, so die Seele der gantzen Dicht-
Kunst ist, wie Aristoteles im VI. Cap. s. Poetik schreibt:
Arkhe kai oic~n psukhe muthos. Selbst unsre Muttersprache
lehrt uns dieses; wenn wir die Poesie die Dicht-Kunst, und
ein Poetisches Werck, ein Gedichte nennen. Sachen die
wircklich geschehen sind, d. i. wahre Begebenheiten, darf
man nicht erst dichten: folglich entsteht auch aus Beschrei-
bung und Erzehlung derselben kein Gedichte, sondern eine
Historie oder Geschicht: und ihr Verfasser bekommt nicht
den Nahmen eines Dichters, sondern eines Geschichtschrei-
bers. Die Pharsalische Schlacht also, die Lucanus in
Verßen beschrieben hat, kan nichts anders als eine Historie
in Verßen heissen: Die Fabeln Esopi hergegen, obwohl sie
nur in ungebundner Schreibart abgefasset worden, sind

Ge-

Von den Poetiſchen Nachahmungen.
oder dieſe in jenen nachahmen muß. Ohne dieſe wird man
unfehlbar in den Fehler verfallen, den dort Canitz an den mei-
ſten unſrer Poeten tadelt, wenn er den Virgil als einen gluͤck-
lichen Nachahmer der Natur im Abſehen auf den Character
der Dido erhebet. Es heißt:

Man redt und ſchreibt nicht mehr was ſich zur Sache ſchicket,
Es wird nach der Natur kein Einfall ausgedruͤcket,
Der Bogen iſt gefuͤllt, eh man an ſie gedacht;
Was groß iſt, das wird klein, was klein iſt, groß gemacht:
Da doch ein jeder weiß, daß in den Schildereyen,
Nur bloß die Aehnlichkeit das Auge kan erfreuen,
Und eines Zwerges Bild die Artigkeit verliert,
Wenn es wird in Geſtalt der Rieſen aufgefuͤhrt.
Wir leſen ja mit Luſt Aeneas Abentheuer:
Warum? Stoͤßt ihm zur Hand ein grimmig Ungeheuer;
So hat es ſein Virgil, ſo kuͤnſtlich vorgeſtellt,
Daß uns, ich weiß nicht wie, ein Schrecken uͤberfaͤllt:
Und hoͤr ich Dido dort von Schimpf und Undanck ſprechen,
So moͤcht ich ihren Hohn an den Trojanern raͤchen.
So kuͤnſtlich trifft itzund kein Dichter die Natur,
Sie iſt ihm viel zu ſchlecht: Er ſucht ihm fremde Spur,
Geußt ſolche Thraͤnen aus, die lachenswuͤrdig ſcheinen,
Und wenn er lachen will, ſo moͤchten andre weinen.

Doch auch dieſe ſo ſchwere Gattung der Nachahmung ma-
chet nicht das Hauptwerck in der Poeſie aus. Die Fabel
iſt hauptſaͤchlich dasjenige, ſo die Seele der gantzen Dicht-
Kunſt iſt, wie Ariſtoteles im VI. Cap. ſ. Poetik ſchreibt:
Αρχὴ καὶ οιϲ῀ν ψυχὴ μῦϑος. Selbſt unſre Mutterſprache
lehrt uns dieſes; wenn wir die Poeſie die Dicht-Kunſt, und
ein Poetiſches Werck, ein Gedichte nennen. Sachen die
wircklich geſchehen ſind, d. i. wahre Begebenheiten, darf
man nicht erſt dichten: folglich entſteht auch aus Beſchrei-
bung und Erzehlung derſelben kein Gedichte, ſondern eine
Hiſtorie oder Geſchicht: und ihr Verfaſſer bekommt nicht
den Nahmen eines Dichters, ſondern eines Geſchichtſchrei-
bers. Die Pharſaliſche Schlacht alſo, die Lucanus in
Verßen beſchrieben hat, kan nichts anders als eine Hiſtorie
in Verßen heiſſen: Die Fabeln Eſopi hergegen, obwohl ſie
nur in ungebundner Schreibart abgefaſſet worden, ſind

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[123/0151] Von den Poetiſchen Nachahmungen. oder dieſe in jenen nachahmen muß. Ohne dieſe wird man unfehlbar in den Fehler verfallen, den dort Canitz an den mei- ſten unſrer Poeten tadelt, wenn er den Virgil als einen gluͤck- lichen Nachahmer der Natur im Abſehen auf den Character der Dido erhebet. Es heißt: Man redt und ſchreibt nicht mehr was ſich zur Sache ſchicket, Es wird nach der Natur kein Einfall ausgedruͤcket, Der Bogen iſt gefuͤllt, eh man an ſie gedacht; Was groß iſt, das wird klein, was klein iſt, groß gemacht: Da doch ein jeder weiß, daß in den Schildereyen, Nur bloß die Aehnlichkeit das Auge kan erfreuen, Und eines Zwerges Bild die Artigkeit verliert, Wenn es wird in Geſtalt der Rieſen aufgefuͤhrt. Wir leſen ja mit Luſt Aeneas Abentheuer: Warum? Stoͤßt ihm zur Hand ein grimmig Ungeheuer; So hat es ſein Virgil, ſo kuͤnſtlich vorgeſtellt, Daß uns, ich weiß nicht wie, ein Schrecken uͤberfaͤllt: Und hoͤr ich Dido dort von Schimpf und Undanck ſprechen, So moͤcht ich ihren Hohn an den Trojanern raͤchen. So kuͤnſtlich trifft itzund kein Dichter die Natur, Sie iſt ihm viel zu ſchlecht: Er ſucht ihm fremde Spur, Geußt ſolche Thraͤnen aus, die lachenswuͤrdig ſcheinen, Und wenn er lachen will, ſo moͤchten andre weinen. Doch auch dieſe ſo ſchwere Gattung der Nachahmung ma- chet nicht das Hauptwerck in der Poeſie aus. Die Fabel iſt hauptſaͤchlich dasjenige, ſo die Seele der gantzen Dicht- Kunſt iſt, wie Ariſtoteles im VI. Cap. ſ. Poetik ſchreibt: Αρχὴ καὶ οιϲ῀ν ψυχὴ μῦϑος. Selbſt unſre Mutterſprache lehrt uns dieſes; wenn wir die Poeſie die Dicht-Kunſt, und ein Poetiſches Werck, ein Gedichte nennen. Sachen die wircklich geſchehen ſind, d. i. wahre Begebenheiten, darf man nicht erſt dichten: folglich entſteht auch aus Beſchrei- bung und Erzehlung derſelben kein Gedichte, ſondern eine Hiſtorie oder Geſchicht: und ihr Verfaſſer bekommt nicht den Nahmen eines Dichters, ſondern eines Geſchichtſchrei- bers. Die Pharſaliſche Schlacht alſo, die Lucanus in Verßen beſchrieben hat, kan nichts anders als eine Hiſtorie in Verßen heiſſen: Die Fabeln Eſopi hergegen, obwohl ſie nur in ungebundner Schreibart abgefaſſet worden, ſind Ge-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/151>, abgerufen am 21.11.2024.