Einfälle und Zierrathen angebracht, die sich vor keinen war- hafftig verliebten schicken. Man darf nur dargegen halten, was Günther I Th. sein. Ged. an seine Geliebte geschrieben, wo alles der Natur gemäß ist: so wird man leicht selbst wahr- nehmen, was eine geschickte Nachahmung der Natur ist, und was ein kaltes und frostiges Gewäsche in der Poesie heist.
Auf dieser Kunst nun beruhet fast die gantze Theatralische Poesie, was nehmlich die Charactere einzelner Personen, ihre Reden in einzelnen Scenen, und ihre Handlungen an- langt. Denn hier muß ein Poet alles, was von dem auf- tretenden Helden oder was es sonst ist, wircklich und der Na- tur gemäß hätte geschehen können, so genau nachahmen, daß man nichts unwahrscheinliches dabey wahrnehmen könne. Jn Helden-Gedichten, und allen übrigen Arten, wo man auch zuweilen andre redend einführet, hat eben dieses statt, wie an seinem Orte stückweise soll erwiesen werden. Ho- ratius hat in seiner Dicht-Kunst zu verschiedenen mahlen daran gedacht, und nicht nur die Regel gegeben, wie man, den Achilles, die Medea, den Jxion, die Jo u. s. w. abbilden und aufführen solle; daß ein Greis und ein Jüngling, ein Argiver und Babylonier, ein Kauffmann und Bauer, eine Matrone und eine Amme nicht auf einerley Art reden und handeln müsse. Sondern auch gewiesen, wo man die Kunst gute Charactere zu machen lerne; nehmlich aus der Sitten- Lehre und der Erfahrung. Diese zeiget uns die herrschenden Neigungen der Kinder, Jünglinge, Männer und Alten: Jene hergegen lehret sowohl die Natur der Affecten, als die Pflichten aller Menschen in allen Ständen. Wer nun hierinn wohl bewandert ist, und sonst scharfsinnig genug ist, auf die Wahrscheinlichkeit in allen Stücken recht Achtung zu geben; der wird in seiner Nachahmung unfehlbar glücklich fortkommen müssen: Da hingegen ein Fremdling in dem allen alle Augenblicke Fehler begehen, und lauter unähnliche Schildereyen verfertigen wird. Jch schließe bey dem allen den Witz nicht aus, denn dieses ist eben diejenige Gemüths- Krafft, die mit den Aehnlichkeiten der Dinge zu thun hat, und folglich auch die Abrisse ihren Urbildern ähnlich machen,
oder
Das IV. Capitel
Einfaͤlle und Zierrathen angebracht, die ſich vor keinen war- hafftig verliebten ſchicken. Man darf nur dargegen halten, was Guͤnther I Th. ſein. Ged. an ſeine Geliebte geſchrieben, wo alles der Natur gemaͤß iſt: ſo wird man leicht ſelbſt wahr- nehmen, was eine geſchickte Nachahmung der Natur iſt, und was ein kaltes und froſtiges Gewaͤſche in der Poeſie heiſt.
Auf dieſer Kunſt nun beruhet faſt die gantze Theatraliſche Poeſie, was nehmlich die Charactere einzelner Perſonen, ihre Reden in einzelnen Scenen, und ihre Handlungen an- langt. Denn hier muß ein Poet alles, was von dem auf- tretenden Helden oder was es ſonſt iſt, wircklich und der Na- tur gemaͤß haͤtte geſchehen koͤnnen, ſo genau nachahmen, daß man nichts unwahrſcheinliches dabey wahrnehmen koͤnne. Jn Helden-Gedichten, und allen uͤbrigen Arten, wo man auch zuweilen andre redend einfuͤhret, hat eben dieſes ſtatt, wie an ſeinem Orte ſtuͤckweiſe ſoll erwieſen werden. Ho- ratius hat in ſeiner Dicht-Kunſt zu verſchiedenen mahlen daran gedacht, und nicht nur die Regel gegeben, wie man, den Achilles, die Medea, den Jxion, die Jo u. ſ. w. abbilden und auffuͤhren ſolle; daß ein Greis und ein Juͤngling, ein Argiver und Babylonier, ein Kauffmann und Bauer, eine Matrone und eine Amme nicht auf einerley Art reden und handeln muͤſſe. Sondern auch gewieſen, wo man die Kunſt gute Charactere zu machen lerne; nehmlich aus der Sitten- Lehre und der Erfahrung. Dieſe zeiget uns die herrſchenden Neigungen der Kinder, Juͤnglinge, Maͤnner und Alten: Jene hergegen lehret ſowohl die Natur der Affecten, als die Pflichten aller Menſchen in allen Staͤnden. Wer nun hierinn wohl bewandert iſt, und ſonſt ſcharfſinnig genug iſt, auf die Wahrſcheinlichkeit in allen Stuͤcken recht Achtung zu geben; der wird in ſeiner Nachahmung unfehlbar gluͤcklich fortkommen muͤſſen: Da hingegen ein Fremdling in dem allen alle Augenblicke Fehler begehen, und lauter unaͤhnliche Schildereyen verfertigen wird. Jch ſchließe bey dem allen den Witz nicht aus, denn dieſes iſt eben diejenige Gemuͤths- Krafft, die mit den Aehnlichkeiten der Dinge zu thun hat, und folglich auch die Abriſſe ihren Urbildern aͤhnlich machen,
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Das IV. Capitel
Einfaͤlle und Zierrathen angebracht, die ſich vor keinen war-
hafftig verliebten ſchicken. Man darf nur dargegen halten,
was Guͤnther I Th. ſein. Ged. an ſeine Geliebte geſchrieben, wo
alles der Natur gemaͤß iſt: ſo wird man leicht ſelbſt wahr-
nehmen, was eine geſchickte Nachahmung der Natur iſt, und
was ein kaltes und froſtiges Gewaͤſche in der Poeſie heiſt.
Auf dieſer Kunſt nun beruhet faſt die gantze Theatraliſche
Poeſie, was nehmlich die Charactere einzelner Perſonen,
ihre Reden in einzelnen Scenen, und ihre Handlungen an-
langt. Denn hier muß ein Poet alles, was von dem auf-
tretenden Helden oder was es ſonſt iſt, wircklich und der Na-
tur gemaͤß haͤtte geſchehen koͤnnen, ſo genau nachahmen, daß
man nichts unwahrſcheinliches dabey wahrnehmen koͤnne.
Jn Helden-Gedichten, und allen uͤbrigen Arten, wo man
auch zuweilen andre redend einfuͤhret, hat eben dieſes ſtatt,
wie an ſeinem Orte ſtuͤckweiſe ſoll erwieſen werden. Ho-
ratius hat in ſeiner Dicht-Kunſt zu verſchiedenen mahlen
daran gedacht, und nicht nur die Regel gegeben, wie man,
den Achilles, die Medea, den Jxion, die Jo u. ſ. w. abbilden
und auffuͤhren ſolle; daß ein Greis und ein Juͤngling, ein
Argiver und Babylonier, ein Kauffmann und Bauer, eine
Matrone und eine Amme nicht auf einerley Art reden und
handeln muͤſſe. Sondern auch gewieſen, wo man die Kunſt
gute Charactere zu machen lerne; nehmlich aus der Sitten-
Lehre und der Erfahrung. Dieſe zeiget uns die herrſchenden
Neigungen der Kinder, Juͤnglinge, Maͤnner und Alten:
Jene hergegen lehret ſowohl die Natur der Affecten, als die
Pflichten aller Menſchen in allen Staͤnden. Wer nun
hierinn wohl bewandert iſt, und ſonſt ſcharfſinnig genug iſt,
auf die Wahrſcheinlichkeit in allen Stuͤcken recht Achtung zu
geben; der wird in ſeiner Nachahmung unfehlbar gluͤcklich
fortkommen muͤſſen: Da hingegen ein Fremdling in dem
allen alle Augenblicke Fehler begehen, und lauter unaͤhnliche
Schildereyen verfertigen wird. Jch ſchließe bey dem allen
den Witz nicht aus, denn dieſes iſt eben diejenige Gemuͤths-
Krafft, die mit den Aehnlichkeiten der Dinge zu thun hat,
und folglich auch die Abriſſe ihren Urbildern aͤhnlich machen,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/150>, abgerufen am 25.11.2024.
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