Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Von den Poetischen Nachahmungen. gründlich erwiesen. Jn Fontenellens Gedancken von Schä-fergedichten wird man auch Theocritum offt gantz billig ge- tadelt finden. Herr Fontenelle selbst wird in dem Evardian von Richard Steelen gleicher Fehler, und zwar nicht ohne Grund beschuldiget, wie an dem gehörigen Orte ausführli- cher gedacht werden soll. Daß nicht auch unter unsern Deutschen es viele hierinn sollten versehen haben ist gar kein Zweifel. Man darf nur die Discourse der Mahler nachse- hen, wo unterschiedene solche Censuren vorkommen, die hieher gehören. Die Klag-Gedichte, die Canitz und Besser auf ihre Gemahlinnen gemacht, werden sonst als besondere Mu- ster schön ausgedruckter Affecten angesehen; die ich gar wohl unter diese Art der Nachahmung rechnen kan, ob sie gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorstel- len wollen. Denn so viel ist gewiß, daß ein Dichter zum wenigsten denn, wenn er die Verße macht, die volle Stärcke der Leidenschafft nicht empfinden kan. Diese würde ihm nicht Zeit lassen, eine Zeile aufzusetzen, sondern ihn nöthigen, alle seine Gedancken auf die Größe seines Verlusts und Un- glücks zu richten. Der Affect muß schon ziemlich gestillet seyn, wenn man die Feder zur Hand nehmen und seine Kla- gen in einem ordentlichen Zusammenhange vorstellen will. Und es ist auch ohnedem gewiß, daß alle beyde oberwehnte Gedichte eine gute Zeit nach dem Tode ihrer Gemahlinnen verfertiget worden: da gewiß die Poeten sich nur bemühet haben ihren vorigen betrübten Zustand aufs natürlichste aus- zudrücken. Ob ich nun wohl nicht leugne, daß diese treffliche Stücke des berühmten Amthors Klagen in gleichem Falle weit weit vorzuziehen sind: So könnte doch ein scharfes Au- ge auch in diesen zwey Meisterstücken noch manchen gar zu gekünstelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entde- cken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr würde hervorgebracht oder gelitten haben. Was hier von dem Schmertze gilt, das muß von allen Affecten verstanden werden. Hoffmanns Waldaus Helden-Briefe, sollen ver- liebt geschrieben seyn: haben aber den Affect, den der Poet nachahmen wollen, sehr schlecht getroffen, und tausend bunte Ein- H 5
Von den Poetiſchen Nachahmungen. gruͤndlich erwieſen. Jn Fontenellens Gedancken von Schaͤ-fergedichten wird man auch Theocritum offt gantz billig ge- tadelt finden. Herr Fontenelle ſelbſt wird in dem Evardian von Richard Steelen gleicher Fehler, und zwar nicht ohne Grund beſchuldiget, wie an dem gehoͤrigen Orte ausfuͤhrli- cher gedacht werden ſoll. Daß nicht auch unter unſern Deutſchen es viele hierinn ſollten verſehen haben iſt gar kein Zweifel. Man darf nur die Diſcourſe der Mahler nachſe- hen, wo unterſchiedene ſolche Cenſuren vorkommen, die hieher gehoͤren. Die Klag-Gedichte, die Canitz und Beſſer auf ihre Gemahlinnen gemacht, werden ſonſt als beſondere Mu- ſter ſchoͤn ausgedruckter Affecten angeſehen; die ich gar wohl unter dieſe Art der Nachahmung rechnen kan, ob ſie gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorſtel- len wollen. Denn ſo viel iſt gewiß, daß ein Dichter zum wenigſten denn, wenn er die Verße macht, die volle Staͤrcke der Leidenſchafft nicht empfinden kan. Dieſe wuͤrde ihm nicht Zeit laſſen, eine Zeile aufzuſetzen, ſondern ihn noͤthigen, alle ſeine Gedancken auf die Groͤße ſeines Verluſts und Un- gluͤcks zu richten. Der Affect muß ſchon ziemlich geſtillet ſeyn, wenn man die Feder zur Hand nehmen und ſeine Kla- gen in einem ordentlichen Zuſammenhange vorſtellen will. Und es iſt auch ohnedem gewiß, daß alle beyde oberwehnte Gedichte eine gute Zeit nach dem Tode ihrer Gemahlinnen verfertiget worden: da gewiß die Poeten ſich nur bemuͤhet haben ihren vorigen betruͤbten Zuſtand aufs natuͤrlichſte aus- zudruͤcken. Ob ich nun wohl nicht leugne, daß dieſe treffliche Stuͤcke des beruͤhmten Amthors Klagen in gleichem Falle weit weit vorzuziehen ſind: So koͤnnte doch ein ſcharfes Au- ge auch in dieſen zwey Meiſterſtuͤcken noch manchen gar zu gekuͤnſtelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entde- cken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr wuͤrde hervorgebracht oder gelitten haben. Was hier von dem Schmertze gilt, das muß von allen Affecten verſtanden werden. Hoffmanns Waldaus Helden-Briefe, ſollen ver- liebt geſchrieben ſeyn: haben aber den Affect, den der Poet nachahmen wollen, ſehr ſchlecht getroffen, und tauſend bunte Ein- H 5
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Von den Poetiſchen Nachahmungen.
gruͤndlich erwieſen. Jn Fontenellens Gedancken von Schaͤ-
fergedichten wird man auch Theocritum offt gantz billig ge-
tadelt finden. Herr Fontenelle ſelbſt wird in dem Evardian
von Richard Steelen gleicher Fehler, und zwar nicht ohne
Grund beſchuldiget, wie an dem gehoͤrigen Orte ausfuͤhrli-
cher gedacht werden ſoll. Daß nicht auch unter unſern
Deutſchen es viele hierinn ſollten verſehen haben iſt gar kein
Zweifel. Man darf nur die Diſcourſe der Mahler nachſe-
hen, wo unterſchiedene ſolche Cenſuren vorkommen, die hieher
gehoͤren. Die Klag-Gedichte, die Canitz und Beſſer auf
ihre Gemahlinnen gemacht, werden ſonſt als beſondere Mu-
ſter ſchoͤn ausgedruckter Affecten angeſehen; die ich gar
wohl unter dieſe Art der Nachahmung rechnen kan, ob ſie
gleich ihren eignen Schmertz und nicht einen fremden vorſtel-
len wollen. Denn ſo viel iſt gewiß, daß ein Dichter zum
wenigſten denn, wenn er die Verße macht, die volle Staͤrcke
der Leidenſchafft nicht empfinden kan. Dieſe wuͤrde ihm
nicht Zeit laſſen, eine Zeile aufzuſetzen, ſondern ihn noͤthigen,
alle ſeine Gedancken auf die Groͤße ſeines Verluſts und Un-
gluͤcks zu richten. Der Affect muß ſchon ziemlich geſtillet
ſeyn, wenn man die Feder zur Hand nehmen und ſeine Kla-
gen in einem ordentlichen Zuſammenhange vorſtellen will.
Und es iſt auch ohnedem gewiß, daß alle beyde oberwehnte
Gedichte eine gute Zeit nach dem Tode ihrer Gemahlinnen
verfertiget worden: da gewiß die Poeten ſich nur bemuͤhet
haben ihren vorigen betruͤbten Zuſtand aufs natuͤrlichſte aus-
zudruͤcken. Ob ich nun wohl nicht leugne, daß dieſe treffliche
Stuͤcke des beruͤhmten Amthors Klagen in gleichem Falle
weit weit vorzuziehen ſind: So koͤnnte doch ein ſcharfes Au-
ge auch in dieſen zwey Meiſterſtuͤcken noch manchen gar zu
gekuͤnſtelten Gedancken, und gezwungenen Ausdruck, entde-
cken; den gewiß ein wahrer Schmertz nimmermehr wuͤrde
hervorgebracht oder gelitten haben. Was hier von dem
Schmertze gilt, das muß von allen Affecten verſtanden
werden. Hoffmanns Waldaus Helden-Briefe, ſollen ver-
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