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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das III. Capitel
machen vermögend ist. Jn solchen Wissenschafften aber
wo das deutliche und undeutliche, erwiesene und unerwiesene
noch vermischt ist, pflegt man auch wohl noch vom Geschmacke
zu reden. Z. E. ich könnte wohl sagen: Ein theologisch Buch
nach Moßheimischem Geschmacke; ein Recht der Natur nach
Puffendorfs Geschmack; eine Artzeneykuust nach Boerha-
vens Geschmack. Aber hier werde ich anmercken, daß man
den Geschmack nur in denjenigen Theilen solcher Disciplinen
suchet, die noch ungewiß sind, und also nicht durchgehends
beliebt werden. So bald eine Sache allgemeinen Beyfall
erhält, und vor was demonstrirtes gehalten wird, so hört
man auch auf sie zum Geschmacke zu ziehen. So werden die
Sternseher bald nicht mehr sagen können, ein Welt-Bau
nach Copernicanischem Geschmacke: weil dieses Systema
bereits allenthalben vor das einzige wahre erkannt und ange-
nommen wird.

Diese Anmerckung ist von grossem Nutzen. Sie lehrt
uns nehmlich, daß der metaphorische Geschmack eben sowohl
als der gemeine, nur mit klaren, aber nicht gantz deutlichen
Begriffen der Dinge zuthun habe; und solche Dinge von
einander unterscheide, die man nach der bloßen Empfindung
beurtheilet. Z. E. Ein Bürger bauet sein Haus, und läßt
sich von etlichen Baumeistern Risse dazu machen. Sie ge-
rathen alle anders; und obgleich der Bauherr nichts von der
Architectur versteht, so wehlt er doch einen Riß vor allen
übrigen, den er will ausführen lassen: und man sagt alsdann
er habe die Wahl nach seinem Geschmacke verrichtet. Fragt
man ihn warum er diesen und nicht einen andern Riß geweh-
let, so weiß er nichts weiter zu sagen; als daß ihm dieser am
besten gefallen habe: das ist, er habe ihn vor den schönsten
und vollkommensten gehalten; wie ich denn zum voraus setze,
daß der Bauherr nicht eigennützig zu bauen, sondern ein schön
Gebäude aufzuführen willens sey. Gesetzt aber, man legte
einem andern in der Baukunst sehr geübten Mathematischen
Kenner, die obgedachten Risse vor, mit dem Begehren, sich
einen zu erwehlen: So würde dieser sie gewiß alle nach Archi-
tectonischen Regeln untersuchen, und zuletzt denjenigen allen

übrigen

Das III. Capitel
machen vermoͤgend iſt. Jn ſolchen Wiſſenſchafften aber
wo das deutliche und undeutliche, erwieſene und unerwieſene
noch vermiſcht iſt, pflegt man auch wohl noch vom Geſchmacke
zu reden. Z. E. ich koͤnnte wohl ſagen: Ein theologiſch Buch
nach Moßheimiſchem Geſchmacke; ein Recht der Natur nach
Puffendorfs Geſchmack; eine Artzeneykuuſt nach Boerha-
vens Geſchmack. Aber hier werde ich anmercken, daß man
den Geſchmack nur in denjenigen Theilen ſolcher Diſciplinen
ſuchet, die noch ungewiß ſind, und alſo nicht durchgehends
beliebt werden. So bald eine Sache allgemeinen Beyfall
erhaͤlt, und vor was demonſtrirtes gehalten wird, ſo hoͤrt
man auch auf ſie zum Geſchmacke zu ziehen. So werden die
Sternſeher bald nicht mehr ſagen koͤnnen, ein Welt-Bau
nach Copernicaniſchem Geſchmacke: weil dieſes Syſtema
bereits allenthalben vor das einzige wahre erkannt und ange-
nommen wird.

Dieſe Anmerckung iſt von groſſem Nutzen. Sie lehrt
uns nehmlich, daß der metaphoriſche Geſchmack eben ſowohl
als der gemeine, nur mit klaren, aber nicht gantz deutlichen
Begriffen der Dinge zuthun habe; und ſolche Dinge von
einander unterſcheide, die man nach der bloßen Empfindung
beurtheilet. Z. E. Ein Buͤrger bauet ſein Haus, und laͤßt
ſich von etlichen Baumeiſtern Riſſe dazu machen. Sie ge-
rathen alle anders; und obgleich der Bauherr nichts von der
Architectur verſteht, ſo wehlt er doch einen Riß vor allen
uͤbrigen, den er will ausfuͤhren laſſen: und man ſagt alsdann
er habe die Wahl nach ſeinem Geſchmacke verrichtet. Fragt
man ihn warum er dieſen und nicht einen andern Riß geweh-
let, ſo weiß er nichts weiter zu ſagen; als daß ihm dieſer am
beſten gefallen habe: das iſt, er habe ihn vor den ſchoͤnſten
und vollkommenſten gehalten; wie ich denn zum voraus ſetze,
daß der Bauherr nicht eigennuͤtzig zu bauen, ſondern ein ſchoͤn
Gebaͤude aufzufuͤhren willens ſey. Geſetzt aber, man legte
einem andern in der Baukunſt ſehr geuͤbten Mathematiſchen
Kenner, die obgedachten Riſſe vor, mit dem Begehren, ſich
einen zu erwehlen: So wuͤrde dieſer ſie gewiß alle nach Archi-
tectoniſchen Regeln unterſuchen, und zuletzt denjenigen allen

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[102/0130] Das III. Capitel machen vermoͤgend iſt. Jn ſolchen Wiſſenſchafften aber wo das deutliche und undeutliche, erwieſene und unerwieſene noch vermiſcht iſt, pflegt man auch wohl noch vom Geſchmacke zu reden. Z. E. ich koͤnnte wohl ſagen: Ein theologiſch Buch nach Moßheimiſchem Geſchmacke; ein Recht der Natur nach Puffendorfs Geſchmack; eine Artzeneykuuſt nach Boerha- vens Geſchmack. Aber hier werde ich anmercken, daß man den Geſchmack nur in denjenigen Theilen ſolcher Diſciplinen ſuchet, die noch ungewiß ſind, und alſo nicht durchgehends beliebt werden. So bald eine Sache allgemeinen Beyfall erhaͤlt, und vor was demonſtrirtes gehalten wird, ſo hoͤrt man auch auf ſie zum Geſchmacke zu ziehen. So werden die Sternſeher bald nicht mehr ſagen koͤnnen, ein Welt-Bau nach Copernicaniſchem Geſchmacke: weil dieſes Syſtema bereits allenthalben vor das einzige wahre erkannt und ange- nommen wird. Dieſe Anmerckung iſt von groſſem Nutzen. Sie lehrt uns nehmlich, daß der metaphoriſche Geſchmack eben ſowohl als der gemeine, nur mit klaren, aber nicht gantz deutlichen Begriffen der Dinge zuthun habe; und ſolche Dinge von einander unterſcheide, die man nach der bloßen Empfindung beurtheilet. Z. E. Ein Buͤrger bauet ſein Haus, und laͤßt ſich von etlichen Baumeiſtern Riſſe dazu machen. Sie ge- rathen alle anders; und obgleich der Bauherr nichts von der Architectur verſteht, ſo wehlt er doch einen Riß vor allen uͤbrigen, den er will ausfuͤhren laſſen: und man ſagt alsdann er habe die Wahl nach ſeinem Geſchmacke verrichtet. Fragt man ihn warum er dieſen und nicht einen andern Riß geweh- let, ſo weiß er nichts weiter zu ſagen; als daß ihm dieſer am beſten gefallen habe: das iſt, er habe ihn vor den ſchoͤnſten und vollkommenſten gehalten; wie ich denn zum voraus ſetze, daß der Bauherr nicht eigennuͤtzig zu bauen, ſondern ein ſchoͤn Gebaͤude aufzufuͤhren willens ſey. Geſetzt aber, man legte einem andern in der Baukunſt ſehr geuͤbten Mathematiſchen Kenner, die obgedachten Riſſe vor, mit dem Begehren, ſich einen zu erwehlen: So wuͤrde dieſer ſie gewiß alle nach Archi- tectoniſchen Regeln unterſuchen, und zuletzt denjenigen allen uͤbrigen

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/130>, abgerufen am 29.03.2024.