worinn der saure Geschmack vom bittern, dieser vom herben, scharfen u. s. f. unterschieden sey, und woran wir einen vor dem andern erkennen? Dieses zeiget daß unsre Vorstellungen davon verwirrt, und eben so undeutlich sind als die Begriffe von der rothen, blauen, grünen oder gelben Farbe. Und von eben dieser Undeutlichkeit kommt es her, daß man das Sprich- wort gemacht hat: Vom Geschmacke müsse man nicht viel zancken.
Weiter nehme ich aus der gemeinen Sprache an, daß man denen, die den gesunden Gebrauch ihrer Zunge haben, den guten Geschmack nicht abzusprechen pflegt; so lange sie sagen, daß der Zucker süß, Wermuth bitter, und Eßig sauer schmeckt: Denn darinn kömmt die gantze Welt überein. Wer hergegen ein Gallenfieber hat, so, daß ihm alles ohne Unterscheid bitter schmeckt, dem eignet man einen verderbten Geschmack zu; weil er nicht mehr nach Beschaffenheit der Sachen, sondern nach seiner verderbten Zunge urtheilet. Jmgleichen pflegt es zu geschehen, daß sich gewisse Leute von Jugend auf gewöhnen Kohlen, Kalck, Kreide u. a. m. zu essen; daher es nachmahls kommt, daß sie in dem Genusse solcher ungeschmackten Dinge einen besondern Geschmack zu finden vermeynen, welchen aber niemand der keine so ver- wehnte Zunge hat, darinn finden kan. Von solchen Leuten sagt man nun auch, daß sie einen verderbten, übeln oder ver- kehrten Geschmack haben. Und so viel vom Geschmacke im eigentlichen Verstande.
Von dem metaphorischen Geschmacke unsrer Seelen bemercket man, daß man sich dieses Wortes fast gantz allein in freyen Künsten und etlichen andern sinnlichen Dingen be- dienet: hergegen wo es auf die Vernunft allein ankommt, da pflegt man dasselbe nicht zu brauchen. Der Geschmack in der Poesie, Beredsamkeit, Music, Mahlerey und Bau- Kunst; imgleichen in Kleidungen, Gärten, Hausrathe u. d. m. ist sehr bekannt. Aber niemahls habe ich noch vom Geschmacke in der Arithmetic und Geometrie, oder in andern Wissenschafften reden hören, wo man aus deutlich erkannten Grund-Wahrheiten die strengesten Demonstrationen zu
machen
G 3
Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
worinn der ſaure Geſchmack vom bittern, dieſer vom herben, ſcharfen u. ſ. f. unterſchieden ſey, und woran wir einen vor dem andern erkennen? Dieſes zeiget daß unſre Vorſtellungen davon verwirrt, und eben ſo undeutlich ſind als die Begriffe von der rothen, blauen, gruͤnen oder gelben Farbe. Und von eben dieſer Undeutlichkeit kommt es her, daß man das Sprich- wort gemacht hat: Vom Geſchmacke muͤſſe man nicht viel zancken.
Weiter nehme ich aus der gemeinen Sprache an, daß man denen, die den geſunden Gebrauch ihrer Zunge haben, den guten Geſchmack nicht abzuſprechen pflegt; ſo lange ſie ſagen, daß der Zucker ſuͤß, Wermuth bitter, und Eßig ſauer ſchmeckt: Denn darinn koͤmmt die gantze Welt uͤberein. Wer hergegen ein Gallenfieber hat, ſo, daß ihm alles ohne Unterſcheid bitter ſchmeckt, dem eignet man einen verderbten Geſchmack zu; weil er nicht mehr nach Beſchaffenheit der Sachen, ſondern nach ſeiner verderbten Zunge urtheilet. Jmgleichen pflegt es zu geſchehen, daß ſich gewiſſe Leute von Jugend auf gewoͤhnen Kohlen, Kalck, Kreide u. a. m. zu eſſen; daher es nachmahls kommt, daß ſie in dem Genuſſe ſolcher ungeſchmackten Dinge einen beſondern Geſchmack zu finden vermeynen, welchen aber niemand der keine ſo ver- wehnte Zunge hat, darinn finden kan. Von ſolchen Leuten ſagt man nun auch, daß ſie einen verderbten, uͤbeln oder ver- kehrten Geſchmack haben. Und ſo viel vom Geſchmacke im eigentlichen Verſtande.
Von dem metaphoriſchen Geſchmacke unſrer Seelen bemercket man, daß man ſich dieſes Wortes faſt gantz allein in freyen Kuͤnſten und etlichen andern ſinnlichen Dingen be- dienet: hergegen wo es auf die Vernunft allein ankommt, da pflegt man daſſelbe nicht zu brauchen. Der Geſchmack in der Poeſie, Beredſamkeit, Muſic, Mahlerey und Bau- Kunſt; imgleichen in Kleidungen, Gaͤrten, Hausrathe u. d. m. iſt ſehr bekannt. Aber niemahls habe ich noch vom Geſchmacke in der Arithmetic und Geometrie, oder in andern Wiſſenſchafften reden hoͤren, wo man aus deutlich erkannten Grund-Wahrheiten die ſtrengeſten Demonſtrationen zu
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G 3
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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
worinn der ſaure Geſchmack vom bittern, dieſer vom herben,
ſcharfen u. ſ. f. unterſchieden ſey, und woran wir einen vor dem
andern erkennen? Dieſes zeiget daß unſre Vorſtellungen
davon verwirrt, und eben ſo undeutlich ſind als die Begriffe
von der rothen, blauen, gruͤnen oder gelben Farbe. Und von
eben dieſer Undeutlichkeit kommt es her, daß man das Sprich-
wort gemacht hat: Vom Geſchmacke muͤſſe man nicht viel
zancken.
Weiter nehme ich aus der gemeinen Sprache an, daß
man denen, die den geſunden Gebrauch ihrer Zunge haben,
den guten Geſchmack nicht abzuſprechen pflegt; ſo lange ſie
ſagen, daß der Zucker ſuͤß, Wermuth bitter, und Eßig ſauer
ſchmeckt: Denn darinn koͤmmt die gantze Welt uͤberein.
Wer hergegen ein Gallenfieber hat, ſo, daß ihm alles ohne
Unterſcheid bitter ſchmeckt, dem eignet man einen verderbten
Geſchmack zu; weil er nicht mehr nach Beſchaffenheit der
Sachen, ſondern nach ſeiner verderbten Zunge urtheilet.
Jmgleichen pflegt es zu geſchehen, daß ſich gewiſſe Leute von
Jugend auf gewoͤhnen Kohlen, Kalck, Kreide u. a. m. zu
eſſen; daher es nachmahls kommt, daß ſie in dem Genuſſe
ſolcher ungeſchmackten Dinge einen beſondern Geſchmack zu
finden vermeynen, welchen aber niemand der keine ſo ver-
wehnte Zunge hat, darinn finden kan. Von ſolchen Leuten
ſagt man nun auch, daß ſie einen verderbten, uͤbeln oder ver-
kehrten Geſchmack haben. Und ſo viel vom Geſchmacke im
eigentlichen Verſtande.
Von dem metaphoriſchen Geſchmacke unſrer Seelen
bemercket man, daß man ſich dieſes Wortes faſt gantz allein
in freyen Kuͤnſten und etlichen andern ſinnlichen Dingen be-
dienet: hergegen wo es auf die Vernunft allein ankommt,
da pflegt man daſſelbe nicht zu brauchen. Der Geſchmack
in der Poeſie, Beredſamkeit, Muſic, Mahlerey und Bau-
Kunſt; imgleichen in Kleidungen, Gaͤrten, Hausrathe u.
d. m. iſt ſehr bekannt. Aber niemahls habe ich noch vom
Geſchmacke in der Arithmetic und Geometrie, oder in andern
Wiſſenſchafften reden hoͤren, wo man aus deutlich erkannten
Grund-Wahrheiten die ſtrengeſten Demonſtrationen zu
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/129>, abgerufen am 27.11.2024.
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