Denn dieß gilt dahin nicht, daß diese Schwierigkeit Dich läßig machen soll. Der Gaben Unterscheid Der hebt nicht alles auf. Kanst du dem Uber-Reichen An seinem grossen Schatz und Vorrath nicht wohl gleichen, So ist dir wenig gnug. Spann alle Sinnen an, Wer weiß was nicht dein Fleiß dir mehr erwerben kan. Schreib wenig, wo nicht viel; doch das nach Arbeit schmecket. Ein kleines Wercklein hat offt grossen Ruhm erwecket. Zwey Zeilen oder drey von Buchnern aufgesetzt; Sind billig mehr als dieß mein gantzes Buch geschätzt. Nur eine Fliege wohl und nach der Kunst gemahlet, Jst ihres Lobes werth, und wird sowohl bezahlet, Als nach des Lebens Maaß ein grosser Elephant, Den nur ein Sudler hat geschmieret von der Hand. Kanst du kein Opitz seyn, kein theurer Flemming werden, O es ist Raum genug vom Himmel bis zur Erden etc. Rachelius Sat. der Poet.
Vor allen Dingen aber ist einem wahren Dichter eine gründliche Erkenntniß des Menschen nöthig, ja gantz unent- behrlich. Ein Poet ahmet hauptsächlich die Handlungen der Menschen nach, die von ihrem freyen Willen herrühren, und vielmahls aus den verschiedenen Neigungen des Ge- müths und hefftigen Affecten ihren Ursprung haben. Daher muß derselbe ja die Natur und Beschaffenheit des Willens, der sinnlichen Begierde, und des sinnlichen Abscheues in allen ihren mannigfaltigen Gestalten gründlich einsehen lernen. Wie würde es ihm sonst möglich seyn, einen Geitzigen, Stol- zen, Verschwendrischen, Zänckischen, Verliebten, Trau- rigen, Verzagten u. s. w. recht zu characterisiren? Alle Be- wegungen des Willens entstehen aus den Meynungen und Urtheilen des Verstandes, so wie diese in den verschiedenen Vorstellungen der Sinne ihren Grund haben. Der Poet muß also auch die Gemüths-Kräffte der vernünftigen Seele, und ihren verschiedenen, sowohl bösen als guten Gebrauch kennen; damit er thörichte Leute thöricht, und so ferner Aber- gläubische, Leichtgläubige, Ungläubige, Vernünftler, Grüb- ler, Zweifler, Einfältige, Spitzfündige, Verschlagene, Dumme und Kluge nach ihrer gehörigen Art abzuschildern und nachzuahmen im Stande sey. Sind ferner die Handlun-
gen
Das II. Capitel
Denn dieß gilt dahin nicht, daß dieſe Schwierigkeit Dich laͤßig machen ſoll. Der Gaben Unterſcheid Der hebt nicht alles auf. Kanſt du dem Uber-Reichen An ſeinem groſſen Schatz und Vorrath nicht wohl gleichen, So iſt dir wenig gnug. Spann alle Sinnen an, Wer weiß was nicht dein Fleiß dir mehr erwerben kan. Schreib wenig, wo nicht viel; doch das nach Arbeit ſchmecket. Ein kleines Wercklein hat offt groſſen Ruhm erwecket. Zwey Zeilen oder drey von Buchnern aufgeſetzt; Sind billig mehr als dieß mein gantzes Buch geſchaͤtzt. Nur eine Fliege wohl und nach der Kunſt gemahlet, Jſt ihres Lobes werth, und wird ſowohl bezahlet, Als nach des Lebens Maaß ein groſſer Elephant, Den nur ein Sudler hat geſchmieret von der Hand. Kanſt du kein Opitz ſeyn, kein theurer Flemming werden, O es iſt Raum genug vom Himmel bis zur Erden ꝛc. Rachelius Sat. der Poet.
Vor allen Dingen aber iſt einem wahren Dichter eine gruͤndliche Erkenntniß des Menſchen noͤthig, ja gantz unent- behrlich. Ein Poet ahmet hauptſaͤchlich die Handlungen der Menſchen nach, die von ihrem freyen Willen herruͤhren, und vielmahls aus den verſchiedenen Neigungen des Ge- muͤths und hefftigen Affecten ihren Urſprung haben. Daher muß derſelbe ja die Natur und Beſchaffenheit des Willens, der ſinnlichen Begierde, und des ſinnlichen Abſcheues in allen ihren mannigfaltigen Geſtalten gruͤndlich einſehen lernen. Wie wuͤrde es ihm ſonſt moͤglich ſeyn, einen Geitzigen, Stol- zen, Verſchwendriſchen, Zaͤnckiſchen, Verliebten, Trau- rigen, Verzagten u. ſ. w. recht zu characteriſiren? Alle Be- wegungen des Willens entſtehen aus den Meynungen und Urtheilen des Verſtandes, ſo wie dieſe in den verſchiedenen Vorſtellungen der Sinne ihren Grund haben. Der Poet muß alſo auch die Gemuͤths-Kraͤffte der vernuͤnftigen Seele, und ihren verſchiedenen, ſowohl boͤſen als guten Gebrauch kennen; damit er thoͤrichte Leute thoͤricht, und ſo ferner Aber- glaͤubiſche, Leichtglaͤubige, Unglaͤubige, Vernuͤnftler, Gruͤb- ler, Zweifler, Einfaͤltige, Spitzfuͤndige, Verſchlagene, Dumme und Kluge nach ihrer gehoͤrigen Art abzuſchildern und nachzuahmen im Stande ſey. Sind ferner die Handlun-
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Das II. Capitel
Denn dieß gilt dahin nicht, daß dieſe Schwierigkeit
Dich laͤßig machen ſoll. Der Gaben Unterſcheid
Der hebt nicht alles auf. Kanſt du dem Uber-Reichen
An ſeinem groſſen Schatz und Vorrath nicht wohl gleichen,
So iſt dir wenig gnug. Spann alle Sinnen an,
Wer weiß was nicht dein Fleiß dir mehr erwerben kan.
Schreib wenig, wo nicht viel; doch das nach Arbeit ſchmecket.
Ein kleines Wercklein hat offt groſſen Ruhm erwecket.
Zwey Zeilen oder drey von Buchnern aufgeſetzt;
Sind billig mehr als dieß mein gantzes Buch geſchaͤtzt.
Nur eine Fliege wohl und nach der Kunſt gemahlet,
Jſt ihres Lobes werth, und wird ſowohl bezahlet,
Als nach des Lebens Maaß ein groſſer Elephant,
Den nur ein Sudler hat geſchmieret von der Hand.
Kanſt du kein Opitz ſeyn, kein theurer Flemming werden,
O es iſt Raum genug vom Himmel bis zur Erden ꝛc.
Rachelius Sat. der Poet.
Vor allen Dingen aber iſt einem wahren Dichter eine
gruͤndliche Erkenntniß des Menſchen noͤthig, ja gantz unent-
behrlich. Ein Poet ahmet hauptſaͤchlich die Handlungen
der Menſchen nach, die von ihrem freyen Willen herruͤhren,
und vielmahls aus den verſchiedenen Neigungen des Ge-
muͤths und hefftigen Affecten ihren Urſprung haben. Daher
muß derſelbe ja die Natur und Beſchaffenheit des Willens,
der ſinnlichen Begierde, und des ſinnlichen Abſcheues in allen
ihren mannigfaltigen Geſtalten gruͤndlich einſehen lernen.
Wie wuͤrde es ihm ſonſt moͤglich ſeyn, einen Geitzigen, Stol-
zen, Verſchwendriſchen, Zaͤnckiſchen, Verliebten, Trau-
rigen, Verzagten u. ſ. w. recht zu characteriſiren? Alle Be-
wegungen des Willens entſtehen aus den Meynungen und
Urtheilen des Verſtandes, ſo wie dieſe in den verſchiedenen
Vorſtellungen der Sinne ihren Grund haben. Der Poet
muß alſo auch die Gemuͤths-Kraͤffte der vernuͤnftigen Seele,
und ihren verſchiedenen, ſowohl boͤſen als guten Gebrauch
kennen; damit er thoͤrichte Leute thoͤricht, und ſo ferner Aber-
glaͤubiſche, Leichtglaͤubige, Unglaͤubige, Vernuͤnftler, Gruͤb-
ler, Zweifler, Einfaͤltige, Spitzfuͤndige, Verſchlagene,
Dumme und Kluge nach ihrer gehoͤrigen Art abzuſchildern
und nachzuahmen im Stande ſey. Sind ferner die Handlun-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/118>, abgerufen am 24.11.2024.
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