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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vom Charactere eines Poeten.
setzen, nachdem es entweder seine Gelehrsamkeit oder Unwis-
senheit an den Tag legt. Daraus folgt nun unfehlbar, daß
ein Poet keine Wissenschafft so gar verabsäumen müsse; als
ob sie ihn nichts angienge. Er muß sich vielmehr bemühen
von allen, zum wenigsten einen kurtzen Begriff zu fassen:
damit er sich wo nicht in allen geschickt erweisen; doch
mindstens in keiner einzigen auf eine lächerliche Art verstoßen
möge.

Vielleicht wirft man mir ein: Jch machte den Begriff
von einem Poeten zu groß und zu vollkommen; Dergleichen
Leute von allgemeiner Gelehrsamkeit hätte es wohl noch nie
gegeben: Jnskünftige aber, würde man sie noch weniger zu
gewarten haben, da die Anzahl der Wissenschafften und
Künste fast täglich grösser würde. Hierauf will ich zur Ant-
wort geben, daß man nicht übel thue, wenn man eine Sache
nach ihrer grösten Vollkommenheit abschildert. So haben
die Stoicker ihren Weisen, die Lehrer der Redekunst ihren
vollkommenen Redner, und die heutigen Weltweisen einen
vollkommenen Philosophen beschrieben. Es ist gut wenn man
ein Ziel vor Augen hat, darnach man streben kan, wenn es
gleich noch niemand erreichet hätte. Je näher man ihm
kommt, desto vollkommener ist man, und der am wenigsten
davon entfernet bleibt, der ist am lobwürdigsten. Gesteht
aber Seneca von dem Stoischen Weisen, Cicero von einem
vollkommenen Redner, und Herr Wolf von einem vollkom-
menen Philosophen, daß dergleichen noch niemahls in der
Welt zu finden gewesen: So will ichs auch bekennen, daß
noch kein Poet den höchsten Gipfel in seiner Kunst erreichet
habe. Die Erfahrung hat es gewiesen. An den berühm-
testen alten und neuen Dichtern haben scharfe Critici mit
gutem Grunde so viel auszusetzen gefunden; daß man auch
hier die menschliche Unvollkommenheit nur gar zu deutlich hat
wahrnehmen können. Wie aber deswegen weder die Stoicker
nach Weisheit, noch die Redner nach Beredsamkeit, noch
die Philosophen nach der Philosophischen Erkenntniß zu stre-
ben aufgehöret: Also darf auch kein Liebhaber der Dichtkunst
den Muth sincken lassen.

Denn
F 5

Vom Charactere eines Poeten.
ſetzen, nachdem es entweder ſeine Gelehrſamkeit oder Unwiſ-
ſenheit an den Tag legt. Daraus folgt nun unfehlbar, daß
ein Poet keine Wiſſenſchafft ſo gar verabſaͤumen muͤſſe; als
ob ſie ihn nichts angienge. Er muß ſich vielmehr bemuͤhen
von allen, zum wenigſten einen kurtzen Begriff zu faſſen:
damit er ſich wo nicht in allen geſchickt erweiſen; doch
mindſtens in keiner einzigen auf eine laͤcherliche Art verſtoßen
moͤge.

Vielleicht wirft man mir ein: Jch machte den Begriff
von einem Poeten zu groß und zu vollkommen; Dergleichen
Leute von allgemeiner Gelehrſamkeit haͤtte es wohl noch nie
gegeben: Jnskuͤnftige aber, wuͤrde man ſie noch weniger zu
gewarten haben, da die Anzahl der Wiſſenſchafften und
Kuͤnſte faſt taͤglich groͤſſer wuͤrde. Hierauf will ich zur Ant-
wort geben, daß man nicht uͤbel thue, wenn man eine Sache
nach ihrer groͤſten Vollkommenheit abſchildert. So haben
die Stoicker ihren Weiſen, die Lehrer der Redekunſt ihren
vollkommenen Redner, und die heutigen Weltweiſen einen
vollkommenen Philoſophen beſchrieben. Es iſt gut wenn man
ein Ziel vor Augen hat, darnach man ſtreben kan, wenn es
gleich noch niemand erreichet haͤtte. Je naͤher man ihm
kommt, deſto vollkommener iſt man, und der am wenigſten
davon entfernet bleibt, der iſt am lobwuͤrdigſten. Geſteht
aber Seneca von dem Stoiſchen Weiſen, Cicero von einem
vollkommenen Redner, und Herr Wolf von einem vollkom-
menen Philoſophen, daß dergleichen noch niemahls in der
Welt zu finden geweſen: So will ichs auch bekennen, daß
noch kein Poet den hoͤchſten Gipfel in ſeiner Kunſt erreichet
habe. Die Erfahrung hat es gewieſen. An den beruͤhm-
teſten alten und neuen Dichtern haben ſcharfe Critici mit
gutem Grunde ſo viel auszuſetzen gefunden; daß man auch
hier die menſchliche Unvollkommenheit nur gar zu deutlich hat
wahrnehmen koͤnnen. Wie aber deswegen weder die Stoicker
nach Weisheit, noch die Redner nach Beredſamkeit, noch
die Philoſophen nach der Philoſophiſchen Erkenntniß zu ſtre-
ben aufgehoͤret: Alſo darf auch kein Liebhaber der Dichtkunſt
den Muth ſincken laſſen.

Denn
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[89/0117] Vom Charactere eines Poeten. ſetzen, nachdem es entweder ſeine Gelehrſamkeit oder Unwiſ- ſenheit an den Tag legt. Daraus folgt nun unfehlbar, daß ein Poet keine Wiſſenſchafft ſo gar verabſaͤumen muͤſſe; als ob ſie ihn nichts angienge. Er muß ſich vielmehr bemuͤhen von allen, zum wenigſten einen kurtzen Begriff zu faſſen: damit er ſich wo nicht in allen geſchickt erweiſen; doch mindſtens in keiner einzigen auf eine laͤcherliche Art verſtoßen moͤge. Vielleicht wirft man mir ein: Jch machte den Begriff von einem Poeten zu groß und zu vollkommen; Dergleichen Leute von allgemeiner Gelehrſamkeit haͤtte es wohl noch nie gegeben: Jnskuͤnftige aber, wuͤrde man ſie noch weniger zu gewarten haben, da die Anzahl der Wiſſenſchafften und Kuͤnſte faſt taͤglich groͤſſer wuͤrde. Hierauf will ich zur Ant- wort geben, daß man nicht uͤbel thue, wenn man eine Sache nach ihrer groͤſten Vollkommenheit abſchildert. So haben die Stoicker ihren Weiſen, die Lehrer der Redekunſt ihren vollkommenen Redner, und die heutigen Weltweiſen einen vollkommenen Philoſophen beſchrieben. Es iſt gut wenn man ein Ziel vor Augen hat, darnach man ſtreben kan, wenn es gleich noch niemand erreichet haͤtte. Je naͤher man ihm kommt, deſto vollkommener iſt man, und der am wenigſten davon entfernet bleibt, der iſt am lobwuͤrdigſten. Geſteht aber Seneca von dem Stoiſchen Weiſen, Cicero von einem vollkommenen Redner, und Herr Wolf von einem vollkom- menen Philoſophen, daß dergleichen noch niemahls in der Welt zu finden geweſen: So will ichs auch bekennen, daß noch kein Poet den hoͤchſten Gipfel in ſeiner Kunſt erreichet habe. Die Erfahrung hat es gewieſen. An den beruͤhm- teſten alten und neuen Dichtern haben ſcharfe Critici mit gutem Grunde ſo viel auszuſetzen gefunden; daß man auch hier die menſchliche Unvollkommenheit nur gar zu deutlich hat wahrnehmen koͤnnen. Wie aber deswegen weder die Stoicker nach Weisheit, noch die Redner nach Beredſamkeit, noch die Philoſophen nach der Philoſophiſchen Erkenntniß zu ſtre- ben aufgehoͤret: Alſo darf auch kein Liebhaber der Dichtkunſt den Muth ſincken laſſen. Denn F 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/117>, abgerufen am 27.11.2024.