Unser Poet fordert also von einem Dichter, er solle den Him- mel bey sich fühlen, ja scharf und geistig seyn. Das zielet ebenfalls auf das gute Naturell oder den fähigen Kopf eines Dichters: denn
- wer nicht von Natur hiezu ist wie gebohren, Bey dem ist Kunst und Fleiß und Ubung auch verlohren. Hör, was der Römer spricht: Die Stadt giebt jährlich zwar Der Bürgermeister zwey: Jedoch nicht alle Jahr Kommt ein Poet hervor. So viel hat das zu sagen, Wenn jemand will mit Recht das Lorber-Kräntzlein tragen. Rachel. Sat. der Poet.
Das ist nun meines Erachtens die beste Erklärung so man von dem Göttlichen in der Poesie geben kan; davon so viel streitens unter den Gelehrten ist. Ein glücklicher muntrer Kopf ist es, wie man insgemein redet; oder ein lebhaffter Witz, wie ein Weltweiser sprechen möchte. Dieser Witz ist eine Gemüths-Krafft, welche die Aehnlichkeit der Dinge leicht wahrnehmen, und also eine Vergleichung zwischen ihnen anstellen kan. Sie setzet die Scharfsinnigkeit zum Grunde, welche ein Vermögen der Seelen anzeiget, viel an einem Dinge wahrzunehmen, welches ein andrer, der gleich- sam einen stumpfen oder blöden Sinn und Verstand hat, nicht würde beobachtet haben. Je grösser nun diese Scharf- sinnigkeit bey einem jungen Menschen ist, je aufgeweckter sein Kopf ist, wie man zu reden pflegt; desto grösser kan auch sein Witz werden, desto sinnreicher werden seine Gedancken seyn. Denn wo man viel Eigenschafften der Dinge angemercket hat, auf alle Kleinigkeiten bey einer Person, Handlung, Begebenheit u. s. w. Acht gegeben: da kan man desto leichter die Aehnlichkeit einer solchen Person, Handlung, Begeben- heit oder Sache mit andern dergleichen Dingen wahrneh- men. Die Einbildungs-Krafft nehmlich bringet bey den gegenwärtigen Empfindungen sehr leicht wiederum die Be- griffe hervor, die wir sonst schon gehabt; wenn sie nur die geringste Aehnlichkeit damit haben. Alle diese Gemüths- Kräffte nun, gehören in einem hohen Grade vor denjenigen, der geschickt nachahmen soll. Und ein Poet muß dergestalt,
sowohl
Das I. Capitel
Unſer Poet fordert alſo von einem Dichter, er ſolle den Him- mel bey ſich fuͤhlen, ja ſcharf und geiſtig ſeyn. Das zielet ebenfalls auf das gute Naturell oder den faͤhigen Kopf eines Dichters: denn
‒ wer nicht von Natur hiezu iſt wie gebohren, Bey dem iſt Kunſt und Fleiß und Ubung auch verlohren. Hoͤr, was der Roͤmer ſpricht: Die Stadt giebt jaͤhrlich zwar Der Buͤrgermeiſter zwey: Jedoch nicht alle Jahr Kommt ein Poet hervor. So viel hat das zu ſagen, Wenn jemand will mit Recht das Lorber-Kraͤntzlein tragen. Rachel. Sat. der Poet.
Das iſt nun meines Erachtens die beſte Erklaͤrung ſo man von dem Goͤttlichen in der Poeſie geben kan; davon ſo viel ſtreitens unter den Gelehrten iſt. Ein gluͤcklicher muntrer Kopf iſt es, wie man insgemein redet; oder ein lebhaffter Witz, wie ein Weltweiſer ſprechen moͤchte. Dieſer Witz iſt eine Gemuͤths-Krafft, welche die Aehnlichkeit der Dinge leicht wahrnehmen, und alſo eine Vergleichung zwiſchen ihnen anſtellen kan. Sie ſetzet die Scharfſinnigkeit zum Grunde, welche ein Vermoͤgen der Seelen anzeiget, viel an einem Dinge wahrzunehmen, welches ein andrer, der gleich- ſam einen ſtumpfen oder bloͤden Sinn und Verſtand hat, nicht wuͤrde beobachtet haben. Je groͤſſer nun dieſe Scharf- ſinnigkeit bey einem jungen Menſchen iſt, je aufgeweckter ſein Kopf iſt, wie man zu reden pflegt; deſto groͤſſer kan auch ſein Witz werden, deſto ſinnreicher werden ſeine Gedancken ſeyn. Denn wo man viel Eigenſchafften der Dinge angemercket hat, auf alle Kleinigkeiten bey einer Perſon, Handlung, Begebenheit u. ſ. w. Acht gegeben: da kan man deſto leichter die Aehnlichkeit einer ſolchen Perſon, Handlung, Begeben- heit oder Sache mit andern dergleichen Dingen wahrneh- men. Die Einbildungs-Krafft nehmlich bringet bey den gegenwaͤrtigen Empfindungen ſehr leicht wiederum die Be- griffe hervor, die wir ſonſt ſchon gehabt; wenn ſie nur die geringſte Aehnlichkeit damit haben. Alle dieſe Gemuͤths- Kraͤffte nun, gehoͤren in einem hohen Grade vor denjenigen, der geſchickt nachahmen ſoll. Und ein Poet muß dergeſtalt,
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[86/0114]
Das I. Capitel
Unſer Poet fordert alſo von einem Dichter, er ſolle den Him-
mel bey ſich fuͤhlen, ja ſcharf und geiſtig ſeyn. Das zielet
ebenfalls auf das gute Naturell oder den faͤhigen Kopf eines
Dichters: denn
‒ wer nicht von Natur hiezu iſt wie gebohren,
Bey dem iſt Kunſt und Fleiß und Ubung auch verlohren.
Hoͤr, was der Roͤmer ſpricht: Die Stadt giebt jaͤhrlich zwar
Der Buͤrgermeiſter zwey: Jedoch nicht alle Jahr
Kommt ein Poet hervor. So viel hat das zu ſagen,
Wenn jemand will mit Recht das Lorber-Kraͤntzlein tragen.
Rachel. Sat. der Poet.
Das iſt nun meines Erachtens die beſte Erklaͤrung ſo
man von dem Goͤttlichen in der Poeſie geben kan; davon ſo
viel ſtreitens unter den Gelehrten iſt. Ein gluͤcklicher muntrer
Kopf iſt es, wie man insgemein redet; oder ein lebhaffter
Witz, wie ein Weltweiſer ſprechen moͤchte. Dieſer Witz
iſt eine Gemuͤths-Krafft, welche die Aehnlichkeit der Dinge
leicht wahrnehmen, und alſo eine Vergleichung zwiſchen
ihnen anſtellen kan. Sie ſetzet die Scharfſinnigkeit zum
Grunde, welche ein Vermoͤgen der Seelen anzeiget, viel an
einem Dinge wahrzunehmen, welches ein andrer, der gleich-
ſam einen ſtumpfen oder bloͤden Sinn und Verſtand hat,
nicht wuͤrde beobachtet haben. Je groͤſſer nun dieſe Scharf-
ſinnigkeit bey einem jungen Menſchen iſt, je aufgeweckter ſein
Kopf iſt, wie man zu reden pflegt; deſto groͤſſer kan auch ſein
Witz werden, deſto ſinnreicher werden ſeine Gedancken ſeyn.
Denn wo man viel Eigenſchafften der Dinge angemercket
hat, auf alle Kleinigkeiten bey einer Perſon, Handlung,
Begebenheit u. ſ. w. Acht gegeben: da kan man deſto leichter
die Aehnlichkeit einer ſolchen Perſon, Handlung, Begeben-
heit oder Sache mit andern dergleichen Dingen wahrneh-
men. Die Einbildungs-Krafft nehmlich bringet bey den
gegenwaͤrtigen Empfindungen ſehr leicht wiederum die Be-
griffe hervor, die wir ſonſt ſchon gehabt; wenn ſie nur die
geringſte Aehnlichkeit damit haben. Alle dieſe Gemuͤths-
Kraͤffte nun, gehoͤren in einem hohen Grade vor denjenigen,
der geſchickt nachahmen ſoll. Und ein Poet muß dergeſtalt,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/114>, abgerufen am 24.11.2024.
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