Und daß er ißt und trinckt, redt, sitzt, steht, geht und liegt, Kömmt nur durch Unterricht, schläft auch nicht ungewiegt. Opitz II. Buch der Trost-Ged.
Daher leitet nun der tiefsinnige Weltweise den Ursprung der Poesie her. So viel ist gewiß, daß diejenigen Knaben, so die gröste Geschicklichkeit im Nachahmen an sich blicken las- sen, auch die gröste Fähigkeit zur Poesie besitzen. Zeiget sich aber jene sonderlich in der Mahlerey und Music, imgleichen im Tantzen u. s. f.: so sieht man wohl, daß Kinder, die zu der- gleichen Ubungen viel Naturell und Lust haben, auch zur Dichtkunst selbst ein treffliches Geschicke erlangen können; wenn die Auferziehung sonst darnach eingerichtet ist.
Weil nun diese natürliche Geschicklichkeit im Nachah- men bey verschiedenen Leuten auch sehr verschieden ist; so daß einige fast ohn alle Mühe eine große Fertigkeit darinn erlan- gen, andre hergegen bey vieler Quaal und Arbeit dennoch hinten bleiben: So hat man angefangen zu sagen, daß die Poeten nicht gemacht; sondern gebohren würden.
C'est en vain, qu'au Parnasse un temeraire Auteur Pense de l'art des vers atteindre la hauteur; S'il ne sent point du Ciel l'influence secrete, Si son astre en naissant ne l'a forme Poete. Dans son genie etroit il est toujours captif, Pour lui Phebus est sourd, & Pegase retif. Boil. Art. Poet. Ch. I.
Den heimlichen Einfluß des Himmels fühlen, und durch ein Gestirn in der Geburt zum Poeten gemacht worden seyn, heist ausser der gebundnen Schreibart nichts anders: als ein gutes und zum Nachahmen geschicktes Naturell bekommen haben.
Es ist hier nicht genug die arme Rede zwingen, Die Sylben über Hals und Kopf in Reime bringen, Der Wörter Hencker seyn: Wer nicht den Himmel fühlt, Nicht scharf und geistig ist, nicht auf die Alten zielt, Nicht ihre Schrifften kennt, der Griechen und Lateiner, Als seine Finger selbst, und schaut daß ihm kaum einer Von allen aussen bleibt, wer die gemeine Bahn Nicht zu verlassen weiß, ist zwar ein guter Mann Doch nicht gleich ein Poet. Opitz Poet. W. I. B.
Unser
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Von dem Charactere eines Poeten.
Und daß er ißt und trinckt, redt, ſitzt, ſteht, geht und liegt, Koͤmmt nur durch Unterricht, ſchlaͤft auch nicht ungewiegt. Opitz II. Buch der Troſt-Ged.
Daher leitet nun der tiefſinnige Weltweiſe den Urſprung der Poeſie her. So viel iſt gewiß, daß diejenigen Knaben, ſo die groͤſte Geſchicklichkeit im Nachahmen an ſich blicken laſ- ſen, auch die groͤſte Faͤhigkeit zur Poeſie beſitzen. Zeiget ſich aber jene ſonderlich in der Mahlerey und Muſic, imgleichen im Tantzen u. ſ. f.: ſo ſieht man wohl, daß Kinder, die zu der- gleichen Ubungen viel Naturell und Luſt haben, auch zur Dichtkunſt ſelbſt ein treffliches Geſchicke erlangen koͤnnen; wenn die Auferziehung ſonſt darnach eingerichtet iſt.
Weil nun dieſe natuͤrliche Geſchicklichkeit im Nachah- men bey verſchiedenen Leuten auch ſehr verſchieden iſt; ſo daß einige faſt ohn alle Muͤhe eine große Fertigkeit darinn erlan- gen, andre hergegen bey vieler Quaal und Arbeit dennoch hinten bleiben: So hat man angefangen zu ſagen, daß die Poeten nicht gemacht; ſondern gebohren wuͤrden.
C’eſt en vain, qu’au Parnaſſe un temeraire Auteur Penſe de l’art des vers atteindre la hauteur; S’il ne ſent point du Ciel l’influence ſecrete, Si ſon aſtre en naiſſant ne l’a formé Poëte. Dans ſon genie étroit il eſt toujours captif, Pour lui Phebus eſt ſourd, & Pegaſe retif. Boil. Art. Poet. Ch. I.
Den heimlichen Einfluß des Himmels fuͤhlen, und durch ein Geſtirn in der Geburt zum Poeten gemacht worden ſeyn, heiſt auſſer der gebundnen Schreibart nichts anders: als ein gutes und zum Nachahmen geſchicktes Naturell bekommen haben.
Es iſt hier nicht genug die arme Rede zwingen, Die Sylben uͤber Hals und Kopf in Reime bringen, Der Woͤrter Hencker ſeyn: Wer nicht den Himmel fuͤhlt, Nicht ſcharf und geiſtig iſt, nicht auf die Alten zielt, Nicht ihre Schrifften kennt, der Griechen und Lateiner, Als ſeine Finger ſelbſt, und ſchaut daß ihm kaum einer Von allen auſſen bleibt, wer die gemeine Bahn Nicht zu verlaſſen weiß, iſt zwar ein guter Mann Doch nicht gleich ein Poet. Opitz Poet. W. I. B.
Unſer
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Von dem Charactere eines Poeten.
Und daß er ißt und trinckt, redt, ſitzt, ſteht, geht und liegt,
Koͤmmt nur durch Unterricht, ſchlaͤft auch nicht ungewiegt.
Opitz II. Buch der Troſt-Ged.
Daher leitet nun der tiefſinnige Weltweiſe den Urſprung der
Poeſie her. So viel iſt gewiß, daß diejenigen Knaben, ſo
die groͤſte Geſchicklichkeit im Nachahmen an ſich blicken laſ-
ſen, auch die groͤſte Faͤhigkeit zur Poeſie beſitzen. Zeiget ſich
aber jene ſonderlich in der Mahlerey und Muſic, imgleichen
im Tantzen u. ſ. f.: ſo ſieht man wohl, daß Kinder, die zu der-
gleichen Ubungen viel Naturell und Luſt haben, auch zur
Dichtkunſt ſelbſt ein treffliches Geſchicke erlangen koͤnnen;
wenn die Auferziehung ſonſt darnach eingerichtet iſt.
Weil nun dieſe natuͤrliche Geſchicklichkeit im Nachah-
men bey verſchiedenen Leuten auch ſehr verſchieden iſt; ſo daß
einige faſt ohn alle Muͤhe eine große Fertigkeit darinn erlan-
gen, andre hergegen bey vieler Quaal und Arbeit dennoch
hinten bleiben: So hat man angefangen zu ſagen, daß die
Poeten nicht gemacht; ſondern gebohren wuͤrden.
C’eſt en vain, qu’au Parnaſſe un temeraire Auteur
Penſe de l’art des vers atteindre la hauteur;
S’il ne ſent point du Ciel l’influence ſecrete,
Si ſon aſtre en naiſſant ne l’a formé Poëte.
Dans ſon genie étroit il eſt toujours captif,
Pour lui Phebus eſt ſourd, & Pegaſe retif.
Boil. Art. Poet. Ch. I.
Den heimlichen Einfluß des Himmels fuͤhlen, und durch ein
Geſtirn in der Geburt zum Poeten gemacht worden ſeyn,
heiſt auſſer der gebundnen Schreibart nichts anders: als ein
gutes und zum Nachahmen geſchicktes Naturell bekommen
haben.
Es iſt hier nicht genug die arme Rede zwingen,
Die Sylben uͤber Hals und Kopf in Reime bringen,
Der Woͤrter Hencker ſeyn: Wer nicht den Himmel fuͤhlt,
Nicht ſcharf und geiſtig iſt, nicht auf die Alten zielt,
Nicht ihre Schrifften kennt, der Griechen und Lateiner,
Als ſeine Finger ſelbſt, und ſchaut daß ihm kaum einer
Von allen auſſen bleibt, wer die gemeine Bahn
Nicht zu verlaſſen weiß, iſt zwar ein guter Mann
Doch nicht gleich ein Poet. Opitz Poet. W. I. B.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/113>, abgerufen am 24.11.2024.
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