sowohl als ein Mahler, Bildschnitzer u. s. w. eine starcke Einbildungs-Krafft, viel Scharfsinnigkeit und einen grossen Witz schon von Natur besitzen, wenn er den Nahmen eines Dichters mit Recht führen will.
Doch alle diese natürliche Gaben sind an und vor sich selbst noch roh und unvollkommen, wenn sie nicht aufgeweckt und von ihrer anklebenden Unrichtigkeit gesaubert werden. Viel witzige Köpfe verrosten gleichsam bey ihrer guten Fähig- keit, aus Mangel der Anführung. Kinder, denen es an Unterricht fehlet, bleiben bey aller ihrer natürlichen Geschick- lichkeit dennoch stecken: Und wenn sie sich gleich unter andern ihres gleichen durch ein lebhaffteres Wesen hervorthun; so ist doch alle ihr Witz gleichsam ein ungebautes Feld, das nur wilde Pflantzen hervortreibet; ein selbst wachsender Baum, der nur ungestalte Aeste und Reiser hervorsprosset. Man kan aber junge Knaben beyzeiten aufwecken, wenn man ihnen bald allerley sinnreiche Schrifften zu lesen giebt; wenn man sie auf die trefflichsten Stellen derselben aufmercksam ma- chet; ihnen die Schönheit derselben recht vor Augen stellet, und durch ein vernünftiges Lob ihrer Verfasser, sie anspornet nach gleicher Ehre zu streben.
Dieses thut man, wenn die Jugend schon ihren Verstand einiger massen brauchen kan: der Grund aber kan noch frü- her dazu geleget werden, wenn man sie beyzeiten im Zeichnen oder Reißen unterweisen läst. Es glaubt niemand, was diese Ubung jungen Leuten vor Vortheil schaffet; als wer sie mit philosophischen Augen ansieht. Wer einen vor Augen lie- genden Riß nachmahlen will, der muß sehr genau auf alle gerade und krumme Linien, Verhältnisse, Grössen, Stel- lungen, Entfernungen, Erhebungen, Schattirungen, Strich- lein und allerkleineste Puncte Achtung geben. Durch der- gleichen Ubung und Bemühung erlangt man also einen hohen Grad der Aufmercksamkeit auf jede vorfallende Sache; welche endlich zu einer Fertigkeit gedeyhet, in grosser Ge- schwindigkeit, und fast im Augenblicke viel an einer Sache wahrzunehmen; welche Fertigkeit wir vorhin die Scharf- sinnigkeit genannt. Jndem aber ein solcher Knabe sich ferner
bemü-
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Von dem Charactere eines Poeten.
ſowohl als ein Mahler, Bildſchnitzer u. ſ. w. eine ſtarcke Einbildungs-Krafft, viel Scharfſinnigkeit und einen groſſen Witz ſchon von Natur beſitzen, wenn er den Nahmen eines Dichters mit Recht fuͤhren will.
Doch alle dieſe natuͤrliche Gaben ſind an und vor ſich ſelbſt noch roh und unvollkommen, wenn ſie nicht aufgeweckt und von ihrer anklebenden Unrichtigkeit geſaubert werden. Viel witzige Koͤpfe verroſten gleichſam bey ihrer guten Faͤhig- keit, aus Mangel der Anfuͤhrung. Kinder, denen es an Unterricht fehlet, bleiben bey aller ihrer natuͤrlichen Geſchick- lichkeit dennoch ſtecken: Und wenn ſie ſich gleich unter andern ihres gleichen durch ein lebhaffteres Weſen hervorthun; ſo iſt doch alle ihr Witz gleichſam ein ungebautes Feld, das nur wilde Pflantzen hervortreibet; ein ſelbſt wachſender Baum, der nur ungeſtalte Aeſte und Reiſer hervorſproſſet. Man kan aber junge Knaben beyzeiten aufwecken, wenn man ihnen bald allerley ſinnreiche Schrifften zu leſen giebt; wenn man ſie auf die trefflichſten Stellen derſelben aufmerckſam ma- chet; ihnen die Schoͤnheit derſelben recht vor Augen ſtellet, und durch ein vernuͤnftiges Lob ihrer Verfaſſer, ſie anſpornet nach gleicher Ehre zu ſtreben.
Dieſes thut man, wenn die Jugend ſchon ihren Verſtand einiger maſſen brauchen kan: der Grund aber kan noch fruͤ- her dazu geleget werden, wenn man ſie beyzeiten im Zeichnen oder Reißen unterweiſen laͤſt. Es glaubt niemand, was dieſe Ubung jungen Leuten vor Vortheil ſchaffet; als wer ſie mit philoſophiſchen Augen anſieht. Wer einen vor Augen lie- genden Riß nachmahlen will, der muß ſehr genau auf alle gerade und krumme Linien, Verhaͤltniſſe, Groͤſſen, Stel- lungen, Entfernungen, Erhebungen, Schattirungen, Strich- lein und allerkleineſte Puncte Achtung geben. Durch der- gleichen Ubung und Bemuͤhung erlangt man alſo einen hohen Grad der Aufmerckſamkeit auf jede vorfallende Sache; welche endlich zu einer Fertigkeit gedeyhet, in groſſer Ge- ſchwindigkeit, und faſt im Augenblicke viel an einer Sache wahrzunehmen; welche Fertigkeit wir vorhin die Scharf- ſinnigkeit genannt. Jndem aber ein ſolcher Knabe ſich ferner
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Von dem Charactere eines Poeten.
ſowohl als ein Mahler, Bildſchnitzer u. ſ. w. eine ſtarcke
Einbildungs-Krafft, viel Scharfſinnigkeit und einen groſſen
Witz ſchon von Natur beſitzen, wenn er den Nahmen eines
Dichters mit Recht fuͤhren will.
Doch alle dieſe natuͤrliche Gaben ſind an und vor ſich
ſelbſt noch roh und unvollkommen, wenn ſie nicht aufgeweckt
und von ihrer anklebenden Unrichtigkeit geſaubert werden.
Viel witzige Koͤpfe verroſten gleichſam bey ihrer guten Faͤhig-
keit, aus Mangel der Anfuͤhrung. Kinder, denen es an
Unterricht fehlet, bleiben bey aller ihrer natuͤrlichen Geſchick-
lichkeit dennoch ſtecken: Und wenn ſie ſich gleich unter andern
ihres gleichen durch ein lebhaffteres Weſen hervorthun; ſo
iſt doch alle ihr Witz gleichſam ein ungebautes Feld, das nur
wilde Pflantzen hervortreibet; ein ſelbſt wachſender Baum,
der nur ungeſtalte Aeſte und Reiſer hervorſproſſet. Man
kan aber junge Knaben beyzeiten aufwecken, wenn man ihnen
bald allerley ſinnreiche Schrifften zu leſen giebt; wenn man
ſie auf die trefflichſten Stellen derſelben aufmerckſam ma-
chet; ihnen die Schoͤnheit derſelben recht vor Augen ſtellet,
und durch ein vernuͤnftiges Lob ihrer Verfaſſer, ſie anſpornet
nach gleicher Ehre zu ſtreben.
Dieſes thut man, wenn die Jugend ſchon ihren Verſtand
einiger maſſen brauchen kan: der Grund aber kan noch fruͤ-
her dazu geleget werden, wenn man ſie beyzeiten im Zeichnen
oder Reißen unterweiſen laͤſt. Es glaubt niemand, was dieſe
Ubung jungen Leuten vor Vortheil ſchaffet; als wer ſie mit
philoſophiſchen Augen anſieht. Wer einen vor Augen lie-
genden Riß nachmahlen will, der muß ſehr genau auf alle
gerade und krumme Linien, Verhaͤltniſſe, Groͤſſen, Stel-
lungen, Entfernungen, Erhebungen, Schattirungen, Strich-
lein und allerkleineſte Puncte Achtung geben. Durch der-
gleichen Ubung und Bemuͤhung erlangt man alſo einen hohen
Grad der Aufmerckſamkeit auf jede vorfallende Sache;
welche endlich zu einer Fertigkeit gedeyhet, in groſſer Ge-
ſchwindigkeit, und faſt im Augenblicke viel an einer Sache
wahrzunehmen; welche Fertigkeit wir vorhin die Scharf-
ſinnigkeit genannt. Jndem aber ein ſolcher Knabe ſich ferner
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/115>, abgerufen am 24.11.2024.
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