Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

und Wachsthume der Poesie.
mödie lehret und unterrichtet die Zuschauer, obwohl sie das Ge-
lächter erweckt; und also haben freylich auch ein Sophocles,
Euripides, Menander und Terentius, Ehre genug durch ihre
Poesien erlanget, u. ihren Zweck dergestalt vollkommen erhalten.

Was die kleinern Gattungen der Gedichte anlangt, so
sind dieselben freylich so vollkommen nicht. Einige erzehlen
nur; andre sind bloße Fabeln: noch andre klagen nur allein;
und einige sind bloß zum Lehren gemacht. Jn einigen will
man nur loben, und in andern schlechterdings spotten. Viele
sind auch nur zum Schertze und zur Belustigung gemacht,
und also haben sich die Verfasser derselben gleichsam in die
Vollkommenheiten der grössern getheilet. Sie erhalten aber
dergestalt auch nur ein geringes Lob, weil zu einer einzigen
poetischen Absicht auch ein sehr seichter Geist, und mäßiger
Witz schon zulänglich ist. Auch bringen solche poetische Klei-
nigkeiten einer Nation nicht viel Ehre. Es muß was grössers
seyn, womit man sich gegen andre Völcker breit machen, und
ihren Dichtern trotz bieten will. Jndessen bleibt es doch in
allen Gattungen der Gedichte bey dem Ausspruche Horatii:

Der wird vollkommen seyn, der theils ein lehrreich Wesen,
Und theils was liebliches durch seinen Vers besingt;
Zum theil dem Leser nützt, zum theil Ergetzung bringt.
Ein solch Gedicht geht ab, wird weit und breit verführet,
Bis es dem Dichter gar Unsterblichkeit gebiehret.
Dichtk. v. 495.

Bey dem allen ist es nicht zu leugnen, daß nicht nach dem Ur-
theile des grossen Aristoteles, das rechte Hauptwerck der
Poesie in der geschickten Nachahmung bestehe. Die Fabel
selbst, die von andern vor die Seele eines Gedichtes gehalten
wird, ist nichts anders als eine Nachahmung der Natur.
Denn wenn eine Fabel nicht wahrscheinlich ist, so taugt sie
nichts: Wie kan sie aber wahrscheinlich seyn, wenn sie nicht
die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nach-
gehet. Horatz schreibt

Die Fabel laute so, daß sie der Wahrheit gleicht,
Und fordre nicht von uns daß man ihr alles gläube,
Man reisse nicht das Kind der Hexen aus dem Leibe
Wenn sie es schon verzehrt. Dichtk. v. 489.
Diese

und Wachsthume der Poeſie.
moͤdie lehret und unterrichtet die Zuſchauer, obwohl ſie das Ge-
laͤchter erweckt; und alſo haben freylich auch ein Sophocles,
Euripides, Menander und Terentius, Ehre genug durch ihre
Poeſien erlanget, u. ihren Zweck dergeſtalt vollkom̃en erhalten.

Was die kleinern Gattungen der Gedichte anlangt, ſo
ſind dieſelben freylich ſo vollkommen nicht. Einige erzehlen
nur; andre ſind bloße Fabeln: noch andre klagen nur allein;
und einige ſind bloß zum Lehren gemacht. Jn einigen will
man nur loben, und in andern ſchlechterdings ſpotten. Viele
ſind auch nur zum Schertze und zur Beluſtigung gemacht,
und alſo haben ſich die Verfaſſer derſelben gleichſam in die
Vollkommenheiten der groͤſſern getheilet. Sie erhalten aber
dergeſtalt auch nur ein geringes Lob, weil zu einer einzigen
poetiſchen Abſicht auch ein ſehr ſeichter Geiſt, und maͤßiger
Witz ſchon zulaͤnglich iſt. Auch bringen ſolche poetiſche Klei-
nigkeiten einer Nation nicht viel Ehre. Es muß was groͤſſers
ſeyn, womit man ſich gegen andre Voͤlcker breit machen, und
ihren Dichtern trotz bieten will. Jndeſſen bleibt es doch in
allen Gattungen der Gedichte bey dem Ausſpruche Horatii:

Der wird vollkommen ſeyn, der theils ein lehrreich Weſen,
Und theils was liebliches durch ſeinen Vers beſingt;
Zum theil dem Leſer nuͤtzt, zum theil Ergetzung bringt.
Ein ſolch Gedicht geht ab, wird weit und breit verfuͤhret,
Bis es dem Dichter gar Unſterblichkeit gebiehret.
Dichtk. v. 495.

Bey dem allen iſt es nicht zu leugnen, daß nicht nach dem Ur-
theile des groſſen Ariſtoteles, das rechte Hauptwerck der
Poeſie in der geſchickten Nachahmung beſtehe. Die Fabel
ſelbſt, die von andern vor die Seele eines Gedichtes gehalten
wird, iſt nichts anders als eine Nachahmung der Natur.
Denn wenn eine Fabel nicht wahrſcheinlich iſt, ſo taugt ſie
nichts: Wie kan ſie aber wahrſcheinlich ſeyn, wenn ſie nicht
die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nach-
gehet. Horatz ſchreibt

Die Fabel laute ſo, daß ſie der Wahrheit gleicht,
Und fordre nicht von uns daß man ihr alles glaͤube,
Man reiſſe nicht das Kind der Hexen aus dem Leibe
Wenn ſie es ſchon verzehrt. Dichtk. v. 489.
Dieſe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0105" n="77"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Wachsthume der Poe&#x017F;ie.</hi></fw><lb/>
mo&#x0364;die lehret und unterrichtet die Zu&#x017F;chauer, obwohl &#x017F;ie das Ge-<lb/>
la&#x0364;chter erweckt; und al&#x017F;o haben freylich auch ein Sophocles,<lb/>
Euripides, Menander und Terentius, Ehre genug durch ihre<lb/>
Poe&#x017F;ien erlanget, u. ihren Zweck derge&#x017F;talt vollkom&#x0303;en erhalten.</p><lb/>
          <p>Was die kleinern Gattungen der Gedichte anlangt, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ind die&#x017F;elben freylich &#x017F;o vollkommen nicht. Einige erzehlen<lb/>
nur; andre &#x017F;ind bloße Fabeln: noch andre klagen nur allein;<lb/>
und einige &#x017F;ind bloß zum Lehren gemacht. Jn einigen will<lb/>
man nur loben, und in andern &#x017F;chlechterdings &#x017F;potten. Viele<lb/>
&#x017F;ind auch nur zum Schertze und zur Belu&#x017F;tigung gemacht,<lb/>
und al&#x017F;o haben &#x017F;ich die Verfa&#x017F;&#x017F;er der&#x017F;elben gleich&#x017F;am in die<lb/>
Vollkommenheiten der gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern getheilet. Sie erhalten aber<lb/>
derge&#x017F;talt auch nur ein geringes Lob, weil zu einer einzigen<lb/>
poeti&#x017F;chen Ab&#x017F;icht auch ein &#x017F;ehr &#x017F;eichter Gei&#x017F;t, und ma&#x0364;ßiger<lb/>
Witz &#x017F;chon zula&#x0364;nglich i&#x017F;t. Auch bringen &#x017F;olche poeti&#x017F;che Klei-<lb/>
nigkeiten einer Nation nicht viel Ehre. Es muß was gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ers<lb/>
&#x017F;eyn, womit man &#x017F;ich gegen andre Vo&#x0364;lcker breit machen, und<lb/>
ihren Dichtern trotz bieten will. Jnde&#x017F;&#x017F;en bleibt es doch in<lb/>
allen Gattungen der Gedichte bey dem Aus&#x017F;pruche Horatii:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Der wird vollkommen &#x017F;eyn, der theils ein lehrreich We&#x017F;en,</l><lb/>
            <l>Und theils was liebliches durch &#x017F;einen Vers be&#x017F;ingt;</l><lb/>
            <l>Zum theil dem Le&#x017F;er nu&#x0364;tzt, zum theil Ergetzung bringt.</l><lb/>
            <l>Ein &#x017F;olch Gedicht geht ab, wird weit und breit verfu&#x0364;hret,</l><lb/>
            <l>Bis es dem Dichter gar Un&#x017F;terblichkeit gebiehret.</l><lb/>
            <l> <hi rendition="#et">Dichtk. v. 495.</hi> </l>
          </lg><lb/>
          <p>Bey dem allen i&#x017F;t es nicht zu leugnen, daß nicht nach dem Ur-<lb/>
theile des gro&#x017F;&#x017F;en Ari&#x017F;toteles, das rechte Hauptwerck der<lb/>
Poe&#x017F;ie in der ge&#x017F;chickten Nachahmung be&#x017F;tehe. Die Fabel<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, die von andern vor die Seele eines Gedichtes gehalten<lb/>
wird, i&#x017F;t nichts anders als eine Nachahmung der Natur.<lb/>
Denn wenn eine Fabel nicht wahr&#x017F;cheinlich i&#x017F;t, &#x017F;o taugt &#x017F;ie<lb/>
nichts: Wie kan &#x017F;ie aber wahr&#x017F;cheinlich &#x017F;eyn, wenn &#x017F;ie nicht<lb/>
die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nach-<lb/>
gehet. Horatz &#x017F;chreibt</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Die Fabel laute &#x017F;o, daß &#x017F;ie der Wahrheit gleicht,</l><lb/>
            <l>Und fordre nicht von uns daß man ihr alles gla&#x0364;ube,</l><lb/>
            <l>Man rei&#x017F;&#x017F;e nicht das Kind der Hexen aus dem Leibe</l><lb/>
            <l>Wenn &#x017F;ie es &#x017F;chon verzehrt. <hi rendition="#et">Dichtk. v. 489.</hi></l>
          </lg><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Die&#x017F;e</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0105] und Wachsthume der Poeſie. moͤdie lehret und unterrichtet die Zuſchauer, obwohl ſie das Ge- laͤchter erweckt; und alſo haben freylich auch ein Sophocles, Euripides, Menander und Terentius, Ehre genug durch ihre Poeſien erlanget, u. ihren Zweck dergeſtalt vollkom̃en erhalten. Was die kleinern Gattungen der Gedichte anlangt, ſo ſind dieſelben freylich ſo vollkommen nicht. Einige erzehlen nur; andre ſind bloße Fabeln: noch andre klagen nur allein; und einige ſind bloß zum Lehren gemacht. Jn einigen will man nur loben, und in andern ſchlechterdings ſpotten. Viele ſind auch nur zum Schertze und zur Beluſtigung gemacht, und alſo haben ſich die Verfaſſer derſelben gleichſam in die Vollkommenheiten der groͤſſern getheilet. Sie erhalten aber dergeſtalt auch nur ein geringes Lob, weil zu einer einzigen poetiſchen Abſicht auch ein ſehr ſeichter Geiſt, und maͤßiger Witz ſchon zulaͤnglich iſt. Auch bringen ſolche poetiſche Klei- nigkeiten einer Nation nicht viel Ehre. Es muß was groͤſſers ſeyn, womit man ſich gegen andre Voͤlcker breit machen, und ihren Dichtern trotz bieten will. Jndeſſen bleibt es doch in allen Gattungen der Gedichte bey dem Ausſpruche Horatii: Der wird vollkommen ſeyn, der theils ein lehrreich Weſen, Und theils was liebliches durch ſeinen Vers beſingt; Zum theil dem Leſer nuͤtzt, zum theil Ergetzung bringt. Ein ſolch Gedicht geht ab, wird weit und breit verfuͤhret, Bis es dem Dichter gar Unſterblichkeit gebiehret. Dichtk. v. 495. Bey dem allen iſt es nicht zu leugnen, daß nicht nach dem Ur- theile des groſſen Ariſtoteles, das rechte Hauptwerck der Poeſie in der geſchickten Nachahmung beſtehe. Die Fabel ſelbſt, die von andern vor die Seele eines Gedichtes gehalten wird, iſt nichts anders als eine Nachahmung der Natur. Denn wenn eine Fabel nicht wahrſcheinlich iſt, ſo taugt ſie nichts: Wie kan ſie aber wahrſcheinlich ſeyn, wenn ſie nicht die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nach- gehet. Horatz ſchreibt Die Fabel laute ſo, daß ſie der Wahrheit gleicht, Und fordre nicht von uns daß man ihr alles glaͤube, Man reiſſe nicht das Kind der Hexen aus dem Leibe Wenn ſie es ſchon verzehrt. Dichtk. v. 489. Dieſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/105
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/105>, abgerufen am 26.04.2024.