Die Städte zu erbaun, Gesetze vorzuschreiben, So muste Ruhm und Preis den Dichtern eigen bleiben.
Jn der That wurden auch die ältesten Poeten vor Gottesge- lehrte, Staatskündige, Rechtsverständige und Weltweise zugleich gehalten. Sie waren auch in der That alles in allem, und wurden also vor Lehrer des menschlichen Geschlechts, vor ausserordentliche, ja recht göttliche Männer angesehen; die nothwendig alles was sie sungen, aus einer höhern Eingebung, nehmlich von dem Beystande der Musen und des Apollo, her- haben musten.
Dieses alles hat Homerus in seinen beyden Helden-Ge- dichten, Jlias und Odyssee, auf eine geschickte Art zu verbin- den gewust. Er erzehlt wahre Geschichte; Er erdichtet Fa- beln von Göttern und Helden; Er bewegt die Affecten; Er schreibt edel und erhaben; Er lehrt und belustiget endlich seine Leser, auf eine so künstliche Art und Weise, daß man sich lange vergebens bemühet hat seine rechte Haupt-Absicht zu errathen. Ohne Zweifel aber hat er mit Fleiß alle Schön- heiten der Poesie in einem einzigen Wercke verbinden, und also ein Meisterstück verfertigen, sich selbst aber dadurch in besondre Hochachtung setzen wollen. Er hat auch seinen End- zweck damit erreichet; denn es ist bekannt, wie hoch derselbe zwey bis drey tausend Jahre her, von allen die ihn verstanden, geschätzet worden. Ja so gar diejenigen, so ihn vieler Fehler beschuldiget, haben ihm doch das Lob eines recht grossen leb- hafften und glücklichen Geistes, nicht abgesprochen. Man sehe des Hrn. de la Motte Discurs über Homerum, so er vor seiner französischen Jlias drucken lassen. Mit Virgilio hat es eben die Bewandniß.
Die Tragödien und Comödien anlangend, so ist die Ab- sicht ihrer Verfasser gewiß eben dieselbe gewesen. Man findet was wahres, auch was erdichtetes darinnen. Die Erregung der Affecten ist hier noch weit lebhaffter als in jenem, weil die sichtbare Vorstellung der Personen weit empfindlicher rühret, als die beste Beschreibung. Die Schreibart ist, sonderlich im Trauerspiele, edel und erhaben, und an lehrreichen Sprü- chen hat sie eher einen Uberfluß als Mangel. Selbst die Co-
mödie
Das I. Cap. Vom Urſprunge
Die Staͤdte zu erbaun, Geſetze vorzuſchreiben, So muſte Ruhm und Preis den Dichtern eigen bleiben.
Jn der That wurden auch die aͤlteſten Poeten vor Gottesge- lehrte, Staatskuͤndige, Rechtsverſtaͤndige und Weltweiſe zugleich gehalten. Sie waren auch in der That alles in allem, und wurden alſo vor Lehrer des menſchlichen Geſchlechts, vor auſſerordentliche, ja recht goͤttliche Maͤnner angeſehen; die nothwendig alles was ſie ſungen, aus einer hoͤhern Eingebung, nehmlich von dem Beyſtande der Muſen und des Apollo, her- haben muſten.
Dieſes alles hat Homerus in ſeinen beyden Helden-Ge- dichten, Jlias und Odyſſee, auf eine geſchickte Art zu verbin- den gewuſt. Er erzehlt wahre Geſchichte; Er erdichtet Fa- beln von Goͤttern und Helden; Er bewegt die Affecten; Er ſchreibt edel und erhaben; Er lehrt und beluſtiget endlich ſeine Leſer, auf eine ſo kuͤnſtliche Art und Weiſe, daß man ſich lange vergebens bemuͤhet hat ſeine rechte Haupt-Abſicht zu errathen. Ohne Zweifel aber hat er mit Fleiß alle Schoͤn- heiten der Poeſie in einem einzigen Wercke verbinden, und alſo ein Meiſterſtuͤck verfertigen, ſich ſelbſt aber dadurch in beſondre Hochachtung ſetzen wollen. Er hat auch ſeinen End- zweck damit erreichet; denn es iſt bekannt, wie hoch derſelbe zwey bis drey tauſend Jahre her, von allen die ihn verſtanden, geſchaͤtzet worden. Ja ſo gar diejenigen, ſo ihn vieler Fehler beſchuldiget, haben ihm doch das Lob eines recht groſſen leb- hafften und gluͤcklichen Geiſtes, nicht abgeſprochen. Man ſehe des Hrn. de la Motte Diſcurs uͤber Homerum, ſo er vor ſeiner franzoͤſiſchen Jlias drucken laſſen. Mit Virgilio hat es eben die Bewandniß.
Die Tragoͤdien und Comoͤdien anlangend, ſo iſt die Ab- ſicht ihrer Verfaſſer gewiß eben dieſelbe geweſen. Man findet was wahres, auch was erdichtetes darinnen. Die Erregung der Affecten iſt hier noch weit lebhaffter als in jenem, weil die ſichtbare Vorſtellung der Perſonen weit empfindlicher ruͤhret, als die beſte Beſchreibung. Die Schreibart iſt, ſonderlich im Trauerſpiele, edel und erhaben, und an lehrreichen Spruͤ- chen hat ſie eher einen Uberfluß als Mangel. Selbſt die Co-
moͤdie
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Das I. Cap. Vom Urſprunge
Die Staͤdte zu erbaun, Geſetze vorzuſchreiben,
So muſte Ruhm und Preis den Dichtern eigen bleiben.
Jn der That wurden auch die aͤlteſten Poeten vor Gottesge-
lehrte, Staatskuͤndige, Rechtsverſtaͤndige und Weltweiſe
zugleich gehalten. Sie waren auch in der That alles in allem,
und wurden alſo vor Lehrer des menſchlichen Geſchlechts, vor
auſſerordentliche, ja recht goͤttliche Maͤnner angeſehen; die
nothwendig alles was ſie ſungen, aus einer hoͤhern Eingebung,
nehmlich von dem Beyſtande der Muſen und des Apollo, her-
haben muſten.
Dieſes alles hat Homerus in ſeinen beyden Helden-Ge-
dichten, Jlias und Odyſſee, auf eine geſchickte Art zu verbin-
den gewuſt. Er erzehlt wahre Geſchichte; Er erdichtet Fa-
beln von Goͤttern und Helden; Er bewegt die Affecten; Er
ſchreibt edel und erhaben; Er lehrt und beluſtiget endlich ſeine
Leſer, auf eine ſo kuͤnſtliche Art und Weiſe, daß man ſich
lange vergebens bemuͤhet hat ſeine rechte Haupt-Abſicht zu
errathen. Ohne Zweifel aber hat er mit Fleiß alle Schoͤn-
heiten der Poeſie in einem einzigen Wercke verbinden, und
alſo ein Meiſterſtuͤck verfertigen, ſich ſelbſt aber dadurch in
beſondre Hochachtung ſetzen wollen. Er hat auch ſeinen End-
zweck damit erreichet; denn es iſt bekannt, wie hoch derſelbe
zwey bis drey tauſend Jahre her, von allen die ihn verſtanden,
geſchaͤtzet worden. Ja ſo gar diejenigen, ſo ihn vieler Fehler
beſchuldiget, haben ihm doch das Lob eines recht groſſen leb-
hafften und gluͤcklichen Geiſtes, nicht abgeſprochen. Man
ſehe des Hrn. de la Motte Diſcurs uͤber Homerum, ſo er vor
ſeiner franzoͤſiſchen Jlias drucken laſſen. Mit Virgilio hat
es eben die Bewandniß.
Die Tragoͤdien und Comoͤdien anlangend, ſo iſt die Ab-
ſicht ihrer Verfaſſer gewiß eben dieſelbe geweſen. Man findet
was wahres, auch was erdichtetes darinnen. Die Erregung
der Affecten iſt hier noch weit lebhaffter als in jenem, weil die
ſichtbare Vorſtellung der Perſonen weit empfindlicher ruͤhret,
als die beſte Beſchreibung. Die Schreibart iſt, ſonderlich
im Trauerſpiele, edel und erhaben, und an lehrreichen Spruͤ-
chen hat ſie eher einen Uberfluß als Mangel. Selbſt die Co-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/104>, abgerufen am 24.11.2024.
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