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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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und Wachsthume der Poesie.
schrieben. Sie sind also nach dem Urtheile Aristotelis, und
des Patersle Bossu, mehr vor Historienschreiber in Verßen,
als vor Poeten zu halten: wie an seinem Orte ausführlich
soll gewiesen werden. Und wo bleiben endlich alle die Epitha-
lamia, Genethliaca
und Epicedia der Alten, so gewiß allezeit
zum lesen; niemahls aber, oder doch sehr selten zum singen
verfertiget worden.

Als bey der Wiederherstellung der freyen Künste in
Europa, auch die Poesie wieder in Flor gekommen, hat man
sich nicht an den alten Gattungen der Griechischen und Rö-
mischen Poesien gnügen lassen; sondern verschiedene neue,
theils musicalische, theils unmusicalische Arten erfunden. Zu
jenen gehören die Opern die von dem getreuen Schäfer des
Guarini ihren Ursprung haben; Ferner die Pastorale, Se-
renaden, Cantaten u. d. gl. Hieher aber die Stantzen, Son-
nette, Madrigale, Rondeaux und andre Kleinigkeiten, die
nicht viel werth sind. Die meisten davon sind von den Jta-
lienern erfunden, als welche ihre Poesie am allerersten in ein
Geschicke gebracht. Die Franzosen sind ihnen nebst den En-
gelländern und Holländern bald gefolget, und wir Deutschen
geben ihnen gewiß in allen diesen Gattungen nichts nach:
Hingegen was die grossen Gedichte der Alten, nehmlich Hel-
den-Gedichte, Tragödien und Comödien anlangt, so haben
wir noch nichts rechtes in unsrer Sprache aufzuweisen, so
nach den gehörigen Regeln ausgearbeitet, und aus keiner
fremden Sprache übersetzt wäre. Die Jtaliener übertreffen
uns durch ihren Tasso, wie die Engelländer durch ihren Mil-
ton, denen wir noch nichts entgegen setzen können, so Stich
hielte. Denn Postels Wittekind taugt nichts, und alle
übrige Helden-Gedichte so wir haben sind nur elende Uberse-
zungen. Des Hrn. Hofrath Pietschen Sieg Carls des
VIten in Ungarn, wird eher einer Lucanischen Pharsal, als
einer Eneis des Virgil ähnlich sehen; weil derselbe sich nicht
nach den Regeln eines Helden-Gedichtes, die Aristoteles und
le Bossu festgesetzet, richten wollen. Die Franzosen haben
itzo an ihrem Voltaire einen Poeten, der ihre Ehre gegen die
vorerwehnten beyden Nationen so gut behauptet, als selbige

durch
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und Wachsthume der Poeſie.
ſchrieben. Sie ſind alſo nach dem Urtheile Ariſtotelis, und
des Patersle Boſſu, mehr vor Hiſtorienſchreiber in Verßen,
als vor Poeten zu halten: wie an ſeinem Orte ausfuͤhrlich
ſoll gewieſen werden. Und wo bleiben endlich alle die Epitha-
lamia, Genethliaca
und Epicedia der Alten, ſo gewiß allezeit
zum leſen; niemahls aber, oder doch ſehr ſelten zum ſingen
verfertiget worden.

Als bey der Wiederherſtellung der freyen Kuͤnſte in
Europa, auch die Poeſie wieder in Flor gekommen, hat man
ſich nicht an den alten Gattungen der Griechiſchen und Roͤ-
miſchen Poeſien gnuͤgen laſſen; ſondern verſchiedene neue,
theils muſicaliſche, theils unmuſicaliſche Arten erfunden. Zu
jenen gehoͤren die Opern die von dem getreuen Schaͤfer des
Guarini ihren Urſprung haben; Ferner die Paſtorale, Se-
renaden, Cantaten u. d. gl. Hieher aber die Stantzen, Son-
nette, Madrigale, Rondeaux und andre Kleinigkeiten, die
nicht viel werth ſind. Die meiſten davon ſind von den Jta-
lienern erfunden, als welche ihre Poeſie am allererſten in ein
Geſchicke gebracht. Die Franzoſen ſind ihnen nebſt den En-
gellaͤndern und Hollaͤndern bald gefolget, und wir Deutſchen
geben ihnen gewiß in allen dieſen Gattungen nichts nach:
Hingegen was die groſſen Gedichte der Alten, nehmlich Hel-
den-Gedichte, Tragoͤdien und Comoͤdien anlangt, ſo haben
wir noch nichts rechtes in unſrer Sprache aufzuweiſen, ſo
nach den gehoͤrigen Regeln ausgearbeitet, und aus keiner
fremden Sprache uͤberſetzt waͤre. Die Jtaliener uͤbertreffen
uns durch ihren Taſſo, wie die Engellaͤnder durch ihren Mil-
ton, denen wir noch nichts entgegen ſetzen koͤnnen, ſo Stich
hielte. Denn Poſtels Wittekind taugt nichts, und alle
uͤbrige Helden-Gedichte ſo wir haben ſind nur elende Uberſe-
zungen. Des Hrn. Hofrath Pietſchen Sieg Carls des
VIten in Ungarn, wird eher einer Lucaniſchen Pharſal, als
einer Eneis des Virgil aͤhnlich ſehen; weil derſelbe ſich nicht
nach den Regeln eines Helden-Gedichtes, die Ariſtoteles und
le Boſſu feſtgeſetzet, richten wollen. Die Franzoſen haben
itzo an ihrem Voltaire einen Poeten, der ihre Ehre gegen die
vorerwehnten beyden Nationen ſo gut behauptet, als ſelbige

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[73/0101] und Wachsthume der Poeſie. ſchrieben. Sie ſind alſo nach dem Urtheile Ariſtotelis, und des Patersle Boſſu, mehr vor Hiſtorienſchreiber in Verßen, als vor Poeten zu halten: wie an ſeinem Orte ausfuͤhrlich ſoll gewieſen werden. Und wo bleiben endlich alle die Epitha- lamia, Genethliaca und Epicedia der Alten, ſo gewiß allezeit zum leſen; niemahls aber, oder doch ſehr ſelten zum ſingen verfertiget worden. Als bey der Wiederherſtellung der freyen Kuͤnſte in Europa, auch die Poeſie wieder in Flor gekommen, hat man ſich nicht an den alten Gattungen der Griechiſchen und Roͤ- miſchen Poeſien gnuͤgen laſſen; ſondern verſchiedene neue, theils muſicaliſche, theils unmuſicaliſche Arten erfunden. Zu jenen gehoͤren die Opern die von dem getreuen Schaͤfer des Guarini ihren Urſprung haben; Ferner die Paſtorale, Se- renaden, Cantaten u. d. gl. Hieher aber die Stantzen, Son- nette, Madrigale, Rondeaux und andre Kleinigkeiten, die nicht viel werth ſind. Die meiſten davon ſind von den Jta- lienern erfunden, als welche ihre Poeſie am allererſten in ein Geſchicke gebracht. Die Franzoſen ſind ihnen nebſt den En- gellaͤndern und Hollaͤndern bald gefolget, und wir Deutſchen geben ihnen gewiß in allen dieſen Gattungen nichts nach: Hingegen was die groſſen Gedichte der Alten, nehmlich Hel- den-Gedichte, Tragoͤdien und Comoͤdien anlangt, ſo haben wir noch nichts rechtes in unſrer Sprache aufzuweiſen, ſo nach den gehoͤrigen Regeln ausgearbeitet, und aus keiner fremden Sprache uͤberſetzt waͤre. Die Jtaliener uͤbertreffen uns durch ihren Taſſo, wie die Engellaͤnder durch ihren Mil- ton, denen wir noch nichts entgegen ſetzen koͤnnen, ſo Stich hielte. Denn Poſtels Wittekind taugt nichts, und alle uͤbrige Helden-Gedichte ſo wir haben ſind nur elende Uberſe- zungen. Des Hrn. Hofrath Pietſchen Sieg Carls des VIten in Ungarn, wird eher einer Lucaniſchen Pharſal, als einer Eneis des Virgil aͤhnlich ſehen; weil derſelbe ſich nicht nach den Regeln eines Helden-Gedichtes, die Ariſtoteles und le Boſſu feſtgeſetzet, richten wollen. Die Franzoſen haben itzo an ihrem Voltaire einen Poeten, der ihre Ehre gegen die vorerwehnten beyden Nationen ſo gut behauptet, als ſelbige durch E 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/101>, abgerufen am 27.11.2024.