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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das I. Cap. Vom Ursprunge
durch den Chapelain war geschmälert worden. Jn Tragö-
dien und Comödien aber sind sie die grösten Meister, und kön-
nen durch ihren Corneille, Racine und Moliere, nicht nur
uns Deutschen, sondern sogar den alten Griechen und Rö-
mern trotzen.

Jch komme endlich auf die Absichten, so die Erfinder und
Fortpflanzer der Poesie vor Augen gehabt: deren Kenntniß
uns in Untersuchung des wahren Wesens der Poesie, nicht
ein geringes Licht geben wird. So mannigfaltig dieselben
gewesen seyn mögen, so leicht sind sie doch zu errathen. Jhre
Gedichte sind ja die Mittel, wodurch sie dieselben zu erlangen
gesucht, und wircklich erlanget haben: wozu also dieselben
geschickt gewesen, das ist vor einen Endzweck ihrer Verfasser
anzusehen.

Die allerersten Sänger ungekünstelter Lieder, haben
nach der damahligen Einfalt ihrer Zeiten, wohl nichts anders
im Sinne gehabt, als wie sie ihren Affect anf eine angenehme
Art ausdrücken wollten, so daß derselbe auch in andern eine
gewisse Gemüths-Bewegung erwecken möchte. Dahin
zielten also ihre lustige und traurige, verliebte und spötti-
sche Lieder ab, und diesen Endzweck erlangten sie auch, so
offt sie ihren eigenen Affect theils durch bequeme Texte, theils
durch geschickte Melodeyen natürlich und lebhafft vorstelleten.
Ein Sauf bruder machte den andern lustig. Ein Betrübter
lockte den andern Thränen heraus, ein Liebhaber gewann
das Hertz seiner Geliebten, und ein Spottvogel brachte durch
seinen beissenden Schertz das Gelächter gantzer Gesellschaff-
ten zuwege. Die Sache ist leicht zu begreifen, weil sie in der
Natnr des Menschen ihren Grund hat, und noch täglich durch
die Erfahrung bestätiget wird.

Eine so wunderbare Kunst brachte den geschicktesten un-
ter ihren Meistern sehr viel Hochachtung zuwege. Man hörte
diese treffliche Sänger gern, man lobte sie sehr, und hielte
gar davor daß sie etwas mehr als Menschen seyn; oder zum
wenigsten einen göttlichen Beystand haben müsten. Dieses
liessen sich die Poeten leicht gefallen, und bemühten sich einen
so vortheilhafften Gedancken von ihrer Kunst nicht nur zu un-

ter-

Das I. Cap. Vom Urſprunge
durch den Chapelain war geſchmaͤlert worden. Jn Tragoͤ-
dien und Comoͤdien aber ſind ſie die groͤſten Meiſter, und koͤn-
nen durch ihren Corneille, Racine und Moliere, nicht nur
uns Deutſchen, ſondern ſogar den alten Griechen und Roͤ-
mern trotzen.

Jch komme endlich auf die Abſichten, ſo die Erfinder und
Fortpflanzer der Poeſie vor Augen gehabt: deren Kenntniß
uns in Unterſuchung des wahren Weſens der Poeſie, nicht
ein geringes Licht geben wird. So mannigfaltig dieſelben
geweſen ſeyn moͤgen, ſo leicht ſind ſie doch zu errathen. Jhre
Gedichte ſind ja die Mittel, wodurch ſie dieſelben zu erlangen
geſucht, und wircklich erlanget haben: wozu alſo dieſelben
geſchickt geweſen, das iſt vor einen Endzweck ihrer Verfaſſer
anzuſehen.

Die allererſten Saͤnger ungekuͤnſtelter Lieder, haben
nach der damahligen Einfalt ihrer Zeiten, wohl nichts anders
im Sinne gehabt, als wie ſie ihren Affect anf eine angenehme
Art ausdruͤcken wollten, ſo daß derſelbe auch in andern eine
gewiſſe Gemuͤths-Bewegung erwecken moͤchte. Dahin
zielten alſo ihre luſtige und traurige, verliebte und ſpoͤtti-
ſche Lieder ab, und dieſen Endzweck erlangten ſie auch, ſo
offt ſie ihren eigenen Affect theils durch bequeme Texte, theils
durch geſchickte Melodeyen natuͤrlich und lebhafft vorſtelleten.
Ein Sauf bruder machte den andern luſtig. Ein Betruͤbter
lockte den andern Thraͤnen heraus, ein Liebhaber gewann
das Hertz ſeiner Geliebten, und ein Spottvogel brachte durch
ſeinen beiſſenden Schertz das Gelaͤchter gantzer Geſellſchaff-
ten zuwege. Die Sache iſt leicht zu begreifen, weil ſie in der
Natnr des Menſchen ihren Grund hat, und noch taͤglich durch
die Erfahrung beſtaͤtiget wird.

Eine ſo wunderbare Kunſt brachte den geſchickteſten un-
ter ihren Meiſtern ſehr viel Hochachtung zuwege. Man hoͤrte
dieſe treffliche Saͤnger gern, man lobte ſie ſehr, und hielte
gar davor daß ſie etwas mehr als Menſchen ſeyn; oder zum
wenigſten einen goͤttlichen Beyſtand haben muͤſten. Dieſes
lieſſen ſich die Poeten leicht gefallen, und bemuͤhten ſich einen
ſo vortheilhafften Gedancken von ihrer Kunſt nicht nur zu un-

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[74/0102] Das I. Cap. Vom Urſprunge durch den Chapelain war geſchmaͤlert worden. Jn Tragoͤ- dien und Comoͤdien aber ſind ſie die groͤſten Meiſter, und koͤn- nen durch ihren Corneille, Racine und Moliere, nicht nur uns Deutſchen, ſondern ſogar den alten Griechen und Roͤ- mern trotzen. Jch komme endlich auf die Abſichten, ſo die Erfinder und Fortpflanzer der Poeſie vor Augen gehabt: deren Kenntniß uns in Unterſuchung des wahren Weſens der Poeſie, nicht ein geringes Licht geben wird. So mannigfaltig dieſelben geweſen ſeyn moͤgen, ſo leicht ſind ſie doch zu errathen. Jhre Gedichte ſind ja die Mittel, wodurch ſie dieſelben zu erlangen geſucht, und wircklich erlanget haben: wozu alſo dieſelben geſchickt geweſen, das iſt vor einen Endzweck ihrer Verfaſſer anzuſehen. Die allererſten Saͤnger ungekuͤnſtelter Lieder, haben nach der damahligen Einfalt ihrer Zeiten, wohl nichts anders im Sinne gehabt, als wie ſie ihren Affect anf eine angenehme Art ausdruͤcken wollten, ſo daß derſelbe auch in andern eine gewiſſe Gemuͤths-Bewegung erwecken moͤchte. Dahin zielten alſo ihre luſtige und traurige, verliebte und ſpoͤtti- ſche Lieder ab, und dieſen Endzweck erlangten ſie auch, ſo offt ſie ihren eigenen Affect theils durch bequeme Texte, theils durch geſchickte Melodeyen natuͤrlich und lebhafft vorſtelleten. Ein Sauf bruder machte den andern luſtig. Ein Betruͤbter lockte den andern Thraͤnen heraus, ein Liebhaber gewann das Hertz ſeiner Geliebten, und ein Spottvogel brachte durch ſeinen beiſſenden Schertz das Gelaͤchter gantzer Geſellſchaff- ten zuwege. Die Sache iſt leicht zu begreifen, weil ſie in der Natnr des Menſchen ihren Grund hat, und noch taͤglich durch die Erfahrung beſtaͤtiget wird. Eine ſo wunderbare Kunſt brachte den geſchickteſten un- ter ihren Meiſtern ſehr viel Hochachtung zuwege. Man hoͤrte dieſe treffliche Saͤnger gern, man lobte ſie ſehr, und hielte gar davor daß ſie etwas mehr als Menſchen ſeyn; oder zum wenigſten einen goͤttlichen Beyſtand haben muͤſten. Dieſes lieſſen ſich die Poeten leicht gefallen, und bemuͤhten ſich einen ſo vortheilhafften Gedancken von ihrer Kunſt nicht nur zu un- ter-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/102>, abgerufen am 29.03.2024.