Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_052.001
im vorigen Abschnitt erläutert, inwieweit die dichterische Schilderung pgo_052.002
berechtigt ist. Die Musik ist ganz Empfindung; in der Dichtkunst ist pgo_052.003
die Empfindung nur der Duft, der über den entrollten Bildern der pgo_052.004
Vorstellung zittert. Die Dichtkunst hat ebensoviel Verwandtschaft pgo_052.005
mit der Malerei, wie mit der Musik. Nur die vollkommenste Unkenntniß pgo_052.006
ihres Wesens konnte das Wagner'sche Paradoxon hervorrufen: "Was pgo_052.007
nicht werth ist gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung werth*)."

pgo_052.008
Wie verhält es sich nun mit der dramatischen Poesie? Hier sehn wir pgo_052.009
täglich in der Oper ihre conventionelle Ehe, neben welcher freilich pgo_052.010
sowohl Drama, als auch Musik selbstständig fortbestehn. Auf der andern pgo_052.011
Seite wird uns das "Kunstwerk der Zukunft**)" offenbart, in welchem pgo_052.012
diese Ehe nicht nur als eine unauflösliche dargestellt, sondern überhaupt pgo_052.013
jeder von beiden Künsten die Berechtigung einer selbstständigen Existenz pgo_052.014
abgesprochen wird. Wenn wir das Verdienst dieser reformatorischen pgo_052.015
That darauf beschränken, für die Vereinigung beider Künste eine neue, pgo_052.016
aber keineswegs ausschließliche Form gefunden zu haben, und die Regeln, pgo_052.017
welche für die reformirte Dichtkunst gelten sollen, nur auf die reformirten pgo_052.018
Operntexte beziehn: so erscheinen viele Behauptungen des pgo_052.019
ebenso schwerfälligen wie paradoxen Denkers, den man einen auf den pgo_052.020
Kopf gestellten Lessing nennen könnte, weil er mit demselben Eifer, pgo_052.021
wie jener auf die Sonderung der Künste und Kunstgattungen, auf pgo_052.022
ihre Vereinigung bedacht ist, in einem günstigeren Lichte und können pgo_052.023
um so heilsamer wirken, als keine Gefahr von der Verwirklichung jenes pgo_052.024
janusköpfigen Jdeals, jenes Kunstwerkes der Zukunft zu befürchten steht, pgo_052.025
außer in irgend einem Utopien, das zu seinen nothwendigen Voraussetzungen pgo_052.026
gehört.

pgo_052.027
Richard Wagner wird scheinbar von einem sittlich reformatorischen pgo_052.028
Drange getrieben, er ist ein ästhetischer Jean Jacques Rousseau. pgo_052.029
Unser ganzer Kulturzustand mit der Fülle seiner Beziehungen ist ihm pgo_052.030
lästig und unbehaglich; er geißelt ihn, wo er kann, mit ätzender Schärfe. pgo_052.031
Er will den Menschen aus allen seinen Hüllen herausschälen -- was

*) pgo_052.032
Richard Wagner, Oper und Drama. Bd. 3. S. 208.
**) pgo_052.033
Richard Wagner, das Kunstwerk der Zukunft (1850); Oper und Drama. pgo_052.034
3 Bde. (1852.)

pgo_052.001
im vorigen Abschnitt erläutert, inwieweit die dichterische Schilderung pgo_052.002
berechtigt ist. Die Musik ist ganz Empfindung; in der Dichtkunst ist pgo_052.003
die Empfindung nur der Duft, der über den entrollten Bildern der pgo_052.004
Vorstellung zittert. Die Dichtkunst hat ebensoviel Verwandtschaft pgo_052.005
mit der Malerei, wie mit der Musik. Nur die vollkommenste Unkenntniß pgo_052.006
ihres Wesens konnte das Wagner'sche Paradoxon hervorrufen: „Was pgo_052.007
nicht werth ist gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung werth*).“

pgo_052.008
Wie verhält es sich nun mit der dramatischen Poesie? Hier sehn wir pgo_052.009
täglich in der Oper ihre conventionelle Ehe, neben welcher freilich pgo_052.010
sowohl Drama, als auch Musik selbstständig fortbestehn. Auf der andern pgo_052.011
Seite wird uns das „Kunstwerk der Zukunft**)“ offenbart, in welchem pgo_052.012
diese Ehe nicht nur als eine unauflösliche dargestellt, sondern überhaupt pgo_052.013
jeder von beiden Künsten die Berechtigung einer selbstständigen Existenz pgo_052.014
abgesprochen wird. Wenn wir das Verdienst dieser reformatorischen pgo_052.015
That darauf beschränken, für die Vereinigung beider Künste eine neue, pgo_052.016
aber keineswegs ausschließliche Form gefunden zu haben, und die Regeln, pgo_052.017
welche für die reformirte Dichtkunst gelten sollen, nur auf die reformirten pgo_052.018
Operntexte beziehn: so erscheinen viele Behauptungen des pgo_052.019
ebenso schwerfälligen wie paradoxen Denkers, den man einen auf den pgo_052.020
Kopf gestellten Lessing nennen könnte, weil er mit demselben Eifer, pgo_052.021
wie jener auf die Sonderung der Künste und Kunstgattungen, auf pgo_052.022
ihre Vereinigung bedacht ist, in einem günstigeren Lichte und können pgo_052.023
um so heilsamer wirken, als keine Gefahr von der Verwirklichung jenes pgo_052.024
janusköpfigen Jdeals, jenes Kunstwerkes der Zukunft zu befürchten steht, pgo_052.025
außer in irgend einem Utopien, das zu seinen nothwendigen Voraussetzungen pgo_052.026
gehört.

pgo_052.027
Richard Wagner wird scheinbar von einem sittlich reformatorischen pgo_052.028
Drange getrieben, er ist ein ästhetischer Jean Jacques Rousseau. pgo_052.029
Unser ganzer Kulturzustand mit der Fülle seiner Beziehungen ist ihm pgo_052.030
lästig und unbehaglich; er geißelt ihn, wo er kann, mit ätzender Schärfe. pgo_052.031
Er will den Menschen aus allen seinen Hüllen herausschälen — was

*) pgo_052.032
Richard Wagner, Oper und Drama. Bd. 3. S. 208.
**) pgo_052.033
Richard Wagner, das Kunstwerk der Zukunft (1850); Oper und Drama. pgo_052.034
3 Bde. (1852.)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0074" n="52"/><lb n="pgo_052.001"/>
im vorigen Abschnitt erläutert, inwieweit die dichterische Schilderung <lb n="pgo_052.002"/>
berechtigt ist. Die Musik ist ganz <hi rendition="#g">Empfindung;</hi> in der Dichtkunst ist <lb n="pgo_052.003"/>
die <hi rendition="#g">Empfindung</hi> nur der <hi rendition="#g">Duft,</hi> der über den entrollten Bildern der <lb n="pgo_052.004"/> <hi rendition="#g">Vorstellung</hi> zittert. Die Dichtkunst hat ebensoviel Verwandtschaft <lb n="pgo_052.005"/>
mit der Malerei, wie mit der Musik. Nur die vollkommenste Unkenntniß <lb n="pgo_052.006"/>
ihres Wesens konnte das Wagner'sche Paradoxon hervorrufen: &#x201E;Was <lb n="pgo_052.007"/>
nicht <hi rendition="#g">werth</hi> ist gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung werth<note xml:id="PGO_052_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_052.032"/><hi rendition="#g">Richard Wagner,</hi> Oper und Drama. Bd. 3. S. 208.</note>.&#x201C;</p>
              <p><lb n="pgo_052.008"/>
Wie verhält es sich nun mit der dramatischen Poesie? Hier sehn wir <lb n="pgo_052.009"/>
täglich in der <hi rendition="#g">Oper</hi> ihre conventionelle Ehe, neben welcher freilich <lb n="pgo_052.010"/>
sowohl Drama, als auch Musik selbstständig fortbestehn. Auf der andern <lb n="pgo_052.011"/>
Seite wird uns das &#x201E;Kunstwerk der Zukunft<note xml:id="PGO_052_2" place="foot" n="**)"><lb n="pgo_052.033"/><hi rendition="#g">Richard Wagner,</hi> das Kunstwerk der Zukunft (1850); <hi rendition="#g">Oper und Drama.</hi> <lb n="pgo_052.034"/>
3 Bde. (1852.)</note>&#x201C; offenbart, in welchem <lb n="pgo_052.012"/>
diese Ehe nicht nur als eine unauflösliche dargestellt, sondern überhaupt <lb n="pgo_052.013"/>
jeder von beiden Künsten die Berechtigung einer selbstständigen Existenz <lb n="pgo_052.014"/>
abgesprochen wird. Wenn wir das Verdienst dieser reformatorischen <lb n="pgo_052.015"/>
That darauf beschränken, für die Vereinigung beider Künste eine neue, <lb n="pgo_052.016"/>
aber keineswegs ausschließliche Form gefunden zu haben, und die Regeln, <lb n="pgo_052.017"/>
welche für die reformirte <hi rendition="#g">Dichtkunst</hi> gelten sollen, nur auf die reformirten <lb n="pgo_052.018"/> <hi rendition="#g">Operntexte</hi> beziehn: so erscheinen viele Behauptungen des <lb n="pgo_052.019"/>
ebenso schwerfälligen wie paradoxen Denkers, den man einen auf den <lb n="pgo_052.020"/>
Kopf gestellten <hi rendition="#g">Lessing</hi> nennen könnte, weil er mit demselben Eifer, <lb n="pgo_052.021"/>
wie jener auf die <hi rendition="#g">Sonderung</hi> der Künste und Kunstgattungen, auf <lb n="pgo_052.022"/>
ihre <hi rendition="#g">Vereinigung</hi> bedacht ist, in einem günstigeren Lichte und können <lb n="pgo_052.023"/>
um so heilsamer wirken, als keine Gefahr von der Verwirklichung jenes <lb n="pgo_052.024"/>
janusköpfigen Jdeals, jenes Kunstwerkes der Zukunft zu befürchten steht, <lb n="pgo_052.025"/>
außer in irgend einem Utopien, das zu seinen nothwendigen Voraussetzungen <lb n="pgo_052.026"/>
gehört.</p>
              <p><lb n="pgo_052.027"/><hi rendition="#g">Richard Wagner</hi> wird scheinbar von einem <hi rendition="#g">sittlich</hi> reformatorischen <lb n="pgo_052.028"/>
Drange getrieben, er ist ein ästhetischer Jean Jacques Rousseau. <lb n="pgo_052.029"/>
Unser ganzer Kulturzustand mit der Fülle seiner Beziehungen ist ihm <lb n="pgo_052.030"/>
lästig und unbehaglich; er geißelt ihn, wo er kann, mit ätzender Schärfe. <lb n="pgo_052.031"/>
Er will den Menschen aus allen seinen Hüllen herausschälen &#x2014; was
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0074] pgo_052.001 im vorigen Abschnitt erläutert, inwieweit die dichterische Schilderung pgo_052.002 berechtigt ist. Die Musik ist ganz Empfindung; in der Dichtkunst ist pgo_052.003 die Empfindung nur der Duft, der über den entrollten Bildern der pgo_052.004 Vorstellung zittert. Die Dichtkunst hat ebensoviel Verwandtschaft pgo_052.005 mit der Malerei, wie mit der Musik. Nur die vollkommenste Unkenntniß pgo_052.006 ihres Wesens konnte das Wagner'sche Paradoxon hervorrufen: „Was pgo_052.007 nicht werth ist gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung werth *).“ pgo_052.008 Wie verhält es sich nun mit der dramatischen Poesie? Hier sehn wir pgo_052.009 täglich in der Oper ihre conventionelle Ehe, neben welcher freilich pgo_052.010 sowohl Drama, als auch Musik selbstständig fortbestehn. Auf der andern pgo_052.011 Seite wird uns das „Kunstwerk der Zukunft **)“ offenbart, in welchem pgo_052.012 diese Ehe nicht nur als eine unauflösliche dargestellt, sondern überhaupt pgo_052.013 jeder von beiden Künsten die Berechtigung einer selbstständigen Existenz pgo_052.014 abgesprochen wird. Wenn wir das Verdienst dieser reformatorischen pgo_052.015 That darauf beschränken, für die Vereinigung beider Künste eine neue, pgo_052.016 aber keineswegs ausschließliche Form gefunden zu haben, und die Regeln, pgo_052.017 welche für die reformirte Dichtkunst gelten sollen, nur auf die reformirten pgo_052.018 Operntexte beziehn: so erscheinen viele Behauptungen des pgo_052.019 ebenso schwerfälligen wie paradoxen Denkers, den man einen auf den pgo_052.020 Kopf gestellten Lessing nennen könnte, weil er mit demselben Eifer, pgo_052.021 wie jener auf die Sonderung der Künste und Kunstgattungen, auf pgo_052.022 ihre Vereinigung bedacht ist, in einem günstigeren Lichte und können pgo_052.023 um so heilsamer wirken, als keine Gefahr von der Verwirklichung jenes pgo_052.024 janusköpfigen Jdeals, jenes Kunstwerkes der Zukunft zu befürchten steht, pgo_052.025 außer in irgend einem Utopien, das zu seinen nothwendigen Voraussetzungen pgo_052.026 gehört. pgo_052.027 Richard Wagner wird scheinbar von einem sittlich reformatorischen pgo_052.028 Drange getrieben, er ist ein ästhetischer Jean Jacques Rousseau. pgo_052.029 Unser ganzer Kulturzustand mit der Fülle seiner Beziehungen ist ihm pgo_052.030 lästig und unbehaglich; er geißelt ihn, wo er kann, mit ätzender Schärfe. pgo_052.031 Er will den Menschen aus allen seinen Hüllen herausschälen — was *) pgo_052.032 Richard Wagner, Oper und Drama. Bd. 3. S. 208. **) pgo_052.033 Richard Wagner, das Kunstwerk der Zukunft (1850); Oper und Drama. pgo_052.034 3 Bde. (1852.)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/74
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/74>, abgerufen am 29.11.2024.