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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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aber die Musik, wenn sie zu einem Mittel des Ausdrucks herabgesetzt pgo_051.002
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Poetik gehört.

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Wir haben gesehn, wie alt der Bund zwischen beiden Künsten ist; pgo_051.005
doch gerade ihre weitere selbstständige Entwickelung löste ihn mit Nothwendigkeit pgo_051.006
auf. Der Dialog trat im Drama selbstständig hervor; die pgo_051.007
Musik begleitete nur die Reflexionen des Chors und konnte in dieser pgo_051.008
Begleitung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das Volkslied freilich pgo_051.009
erzeugte sich stets zusammen mit der Melodie! Das naturwüchsige pgo_051.010
einfache Empfinden, das sich nur halb für die Vorstellung erschloß, pgo_051.011
bewegte sich auf demselben Boden mit der Musik; das Wort deutete nur pgo_051.012
die Schwingungen der Seele an, welche erst in den Schwingungen des pgo_051.013
Tones ihren vollständigen Ausdruck fanden. Das einfache Lied, nicht pgo_051.014
einmal die ganze Lyrik, das Lied, in welchem das Bild nur wie ein pgo_051.015
flüchtiger Schein aus dem wogenden Aether der Empfindung aufzuckt, pgo_051.016
konnte daher bei der weiteren Entfaltung der beiden Künste allein ihrem pgo_051.017
alten Bunde treu bleiben. Jene zarten hingehauchten Weisen Goethe's, pgo_051.018
Uhland's, Heine's, Geibel's forderten ähnlich wie die Lieder der Minnesänger pgo_051.019
die Musik heraus, der Empfindung einen volleren und wärmeren pgo_051.020
Ausdruck zu geben. Doch waren diese Lieder deshalb keine Undinen, pgo_051.021
keine Sprachnixen, denen nur die Musik eine Seele geben konnte. Man pgo_051.022
lese diese Lieder; sie sind auf ihren eigenen Füßen ruhende Kunstwerke. pgo_051.023
Sie haben in Bild und Wort, Rhythmus und Reim ihre eigene Musik pgo_051.024
und wirken stimmungsvoll und die Empfindung weckend auf das Gemüth. pgo_051.025
Die Musik kann diesen Ausdruck verstärken, aber sie ist für die künstlerische pgo_051.026
Wirkung keineswegs unentbehrlich. Die Ode, die Elegie aber, alle pgo_051.027
höheren Gattungen der Lyrik, in denen die Empfindung nicht mehr kindlich pgo_051.028
an der Eischaale pickt, sondern mit freiem Fluge in das erschlossene Reich pgo_051.029
der Phantasie sich erhebt, zeigen die charakteristischen Vorzüge der Poesie pgo_051.030
in so glänzendem Lichte, daß die Musik mit ihren Mitteln nicht mehr folgen pgo_051.031
kann oder die eigenen Vorzüge opfern müßte. Ebenso verhält es sich pgo_051.032
mit der epischen, mit der objectiv-darstellenden Poesie, gegen die auch pgo_051.033
Richard Wagner eine leichterklärliche Abneigung hat. Wir haben bereits

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Richard Wagner, Oper und Drama Bd. 1. pag. 21.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/73>, abgerufen am 29.11.2024.