Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_047.001 "Und stets die volle Seele giebt der Blick, pgo_047.014 Begnügt sich nicht mit halbem Offenbaren! pgo_047.015 Unsterblich lebt darin der Kindheit Glück, pgo_047.016 Des Herzens Kindheit ewig unerfahren. pgo_047.017 Nicht Knospen sind die Lippen vollerschlossen pgo_047.018 Und doch von sanften Gluthen übergossen. pgo_047.019 Und wenn ihr holdes Lächeln sich verfangen pgo_047.020 Jn all' den Grübchen zart auf Kinn und Wangen, pgo_047.021 Dann blüht darin ein solcher Lenz der Seele, pgo_047.022 Daß selbst der Schnee des mürr'schen Alters thaut, pgo_047.023 Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut, pgo_047.024 Als ob ein Zauber zwingend ihm befehle." pgo_047.025 pgo_047.001 „Und stets die volle Seele giebt der Blick, pgo_047.014 Begnügt sich nicht mit halbem Offenbaren! pgo_047.015 Unsterblich lebt darin der Kindheit Glück, pgo_047.016 Des Herzens Kindheit ewig unerfahren. pgo_047.017 Nicht Knospen sind die Lippen vollerschlossen pgo_047.018 Und doch von sanften Gluthen übergossen. pgo_047.019 Und wenn ihr holdes Lächeln sich verfangen pgo_047.020 Jn all' den Grübchen zart auf Kinn und Wangen, pgo_047.021 Dann blüht darin ein solcher Lenz der Seele, pgo_047.022 Daß selbst der Schnee des mürr'schen Alters thaut, pgo_047.023 Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut, pgo_047.024 Als ob ein Zauber zwingend ihm befehle.“ pgo_047.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0069" n="47"/><lb n="pgo_047.001"/> streifenden Beiwörtern, wie Homer die „göttlich schöne“ Helena und <lb n="pgo_047.002"/> Virgil die „<foreign xml:lang="lat">pulcherrima Dido</foreign>?“ Lessing führt die Schilderung der <lb n="pgo_047.003"/> „bezaubernden Alcina“ im „rasenden Roland“ an, um zu zeigen, wie <lb n="pgo_047.004"/> dies Ausmalen der einzelnen Züge, diese Fülle der hervorgehobenen <lb n="pgo_047.005"/> Eigenschaften das Bild zugleich verwischt und erdrückt. Dennoch muß <lb n="pgo_047.006"/> er zugeben, daß Einiges in diesem Gemälde dichterisch wirkt, und dies <lb n="pgo_047.007"/> Wirksame sind nicht die Formen und Farben, sondern der Reiz, die <lb n="pgo_047.008"/> Anmuth, welche, wie wir oben sahen, die <hi rendition="#g">Schönheit in Bewegung</hi> <lb n="pgo_047.009"/> ist. Jn kurzer Formel: der Dichter male die <hi rendition="#g">Schönheit</hi> als <hi rendition="#g">Wirkung</hi> <lb n="pgo_047.010"/> und male sie <hi rendition="#g">durch ihre Wirkung.</hi> Als <hi rendition="#g">Wirkung</hi> geht die Schönheit <lb n="pgo_047.011"/> aus der Seele hervor, die in wechselndem Reize um ihre Linien spielt. <lb n="pgo_047.012"/> So wenn es von der „Bianka“ in meinem <hi rendition="#g">Carlo Zeno</hi> heißt:</p> <lb n="pgo_047.013"/> <lg> <l>„Und stets die volle Seele giebt der Blick,</l> <lb n="pgo_047.014"/> <l>Begnügt sich nicht mit halbem Offenbaren!</l> <lb n="pgo_047.015"/> <l>Unsterblich lebt darin der Kindheit Glück,</l> <lb n="pgo_047.016"/> <l>Des Herzens Kindheit ewig unerfahren.</l> <lb n="pgo_047.017"/> <l>Nicht Knospen sind die Lippen vollerschlossen</l> <lb n="pgo_047.018"/> <l>Und doch von sanften Gluthen übergossen.</l> <lb n="pgo_047.019"/> <l>Und wenn ihr holdes Lächeln sich verfangen</l> <lb n="pgo_047.020"/> <l>Jn all' den Grübchen zart auf Kinn und Wangen,</l> <lb n="pgo_047.021"/> <l>Dann blüht darin ein solcher Lenz der Seele,</l> <lb n="pgo_047.022"/> <l>Daß selbst der Schnee des mürr'schen Alters thaut,</l> <lb n="pgo_047.023"/> <l>Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut,</l> <lb n="pgo_047.024"/> <l>Als ob ein Zauber zwingend ihm befehle.“</l> </lg> <p><lb n="pgo_047.025"/> Die letzten Zeilen deuten zugleich das zweite an. Homer schildert die <lb n="pgo_047.026"/> Helena durch die Wirkung ihrer Schönheit, durch den Eindruck, den sie <lb n="pgo_047.027"/> auf die versammelten trojanischen Greise macht, als sie in ihre Mitte <lb n="pgo_047.028"/> tritt. Dies Malen durch den <hi rendition="#g">psychologischen Reflex</hi> ist echt dichterisch <lb n="pgo_047.029"/> und dem inneren Element der Phantasie angemessen. Daß die <lb n="pgo_047.030"/> <hi rendition="#g">Häßlichkeit</hi> dagegen eher mit dem stückweisen Aufbau der einzelnen <lb n="pgo_047.031"/> Züge in der Poesie geschildert werden kann, daß sie hierin viel weiter <lb n="pgo_047.032"/> gehen darf, als die Malerei: das erklärt sich gerade daraus, daß eben die <lb n="pgo_047.033"/> Schlagkraft des häßlichen Bildes durch das Nacheinander der Momente <lb n="pgo_047.034"/> in der Poesie gemildert wird, während sie durch ihr Nebeneinander in <lb n="pgo_047.035"/> der Malerei drastisch hervortritt. Man vergleiche hierüber, was <hi rendition="#g">Lessing</hi> <lb n="pgo_047.036"/> über den Laokoon gesagt.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0069]
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streifenden Beiwörtern, wie Homer die „göttlich schöne“ Helena und pgo_047.002
Virgil die „pulcherrima Dido?“ Lessing führt die Schilderung der pgo_047.003
„bezaubernden Alcina“ im „rasenden Roland“ an, um zu zeigen, wie pgo_047.004
dies Ausmalen der einzelnen Züge, diese Fülle der hervorgehobenen pgo_047.005
Eigenschaften das Bild zugleich verwischt und erdrückt. Dennoch muß pgo_047.006
er zugeben, daß Einiges in diesem Gemälde dichterisch wirkt, und dies pgo_047.007
Wirksame sind nicht die Formen und Farben, sondern der Reiz, die pgo_047.008
Anmuth, welche, wie wir oben sahen, die Schönheit in Bewegung pgo_047.009
ist. Jn kurzer Formel: der Dichter male die Schönheit als Wirkung pgo_047.010
und male sie durch ihre Wirkung. Als Wirkung geht die Schönheit pgo_047.011
aus der Seele hervor, die in wechselndem Reize um ihre Linien spielt. pgo_047.012
So wenn es von der „Bianka“ in meinem Carlo Zeno heißt:
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„Und stets die volle Seele giebt der Blick, pgo_047.014
Begnügt sich nicht mit halbem Offenbaren! pgo_047.015
Unsterblich lebt darin der Kindheit Glück, pgo_047.016
Des Herzens Kindheit ewig unerfahren. pgo_047.017
Nicht Knospen sind die Lippen vollerschlossen pgo_047.018
Und doch von sanften Gluthen übergossen. pgo_047.019
Und wenn ihr holdes Lächeln sich verfangen pgo_047.020
Jn all' den Grübchen zart auf Kinn und Wangen, pgo_047.021
Dann blüht darin ein solcher Lenz der Seele, pgo_047.022
Daß selbst der Schnee des mürr'schen Alters thaut, pgo_047.023
Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut, pgo_047.024
Als ob ein Zauber zwingend ihm befehle.“
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Die letzten Zeilen deuten zugleich das zweite an. Homer schildert die pgo_047.026
Helena durch die Wirkung ihrer Schönheit, durch den Eindruck, den sie pgo_047.027
auf die versammelten trojanischen Greise macht, als sie in ihre Mitte pgo_047.028
tritt. Dies Malen durch den psychologischen Reflex ist echt dichterisch pgo_047.029
und dem inneren Element der Phantasie angemessen. Daß die pgo_047.030
Häßlichkeit dagegen eher mit dem stückweisen Aufbau der einzelnen pgo_047.031
Züge in der Poesie geschildert werden kann, daß sie hierin viel weiter pgo_047.032
gehen darf, als die Malerei: das erklärt sich gerade daraus, daß eben die pgo_047.033
Schlagkraft des häßlichen Bildes durch das Nacheinander der Momente pgo_047.034
in der Poesie gemildert wird, während sie durch ihr Nebeneinander in pgo_047.035
der Malerei drastisch hervortritt. Man vergleiche hierüber, was Lessing pgo_047.036
über den Laokoon gesagt.
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