Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_048.001 pgo_048.011 pgo_048.015 Vierter Abschnitt. pgo_048.016Die Dichtkunst und die Musik. pgo_048.017 pgo_048.001 pgo_048.011 pgo_048.015 Vierter Abschnitt. pgo_048.016Die Dichtkunst und die Musik. pgo_048.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0070" n="48"/> <p><lb n="pgo_048.001"/> Um die reiche Gedankenwelt zu veranschaulichen, hat der Dichter <lb n="pgo_048.002"/> andere Mittel, als der <hi rendition="#g">Maler,</hi> dessen allegorische Darstellung nicht der <lb n="pgo_048.003"/> <hi rendition="#g">äußeren Attribute</hi> entbehren kann, um nur annähernd die Bestimmtheit <lb n="pgo_048.004"/> eines in eine Gestalt verwandelten Begriffes darzustellen. Der Dichter <lb n="pgo_048.005"/> begiebt sich daher seines Vorzuges, wenn er, wie Horaz, die Nothwendigkeit <lb n="pgo_048.006"/> mit eisernen Haken und Nägeln darstellt. Dies ist schlechte und <lb n="pgo_048.007"/> mit Recht getadelte Malerei; denn der Dichter macht hier unnöthigerweise <lb n="pgo_048.008"/> die Schranke dieser Kunst zur seinigen. Er muß die Nothwendigkeit <lb n="pgo_048.009"/> schildern durch ihre lebendigen Wirkungen, durch welche sie sich als die <lb n="pgo_048.010"/> eiserne Macht in den Geschicken der Einzelnen und der Völker offenbart.</p> <p><lb n="pgo_048.011"/> Diese Winke mögen genügen, um zu zeigen, inwieweit und wie das <lb n="pgo_048.012"/> Malerische in der Poesie auftreten darf. Nur die geistig und sinnlich <lb n="pgo_048.013"/> bewegte Schilderung findet hier ihre Stätte, während die ungebührliche <lb n="pgo_048.014"/> Breite des malenden Elementes die Poesie in Prosa auflöst. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> <div n="4"> <lb n="pgo_048.015"/> <head> <hi rendition="#c">Vierter Abschnitt.</hi> </head> <lb n="pgo_048.016"/> <head> <hi rendition="#c">Die Dichtkunst und die Musik.</hi> </head> <p><lb n="pgo_048.017"/> Der Bund dieser beiden Künste und ihre Unzertrennlichkeit ist historisch <lb n="pgo_048.018"/> älter als ihr selbstständiges Bestehen. Seit der geflügelte Götterbote mit <lb n="pgo_048.019"/> seinem Fuße die Schildkröte berührt und durch den Ton, den sie von sich <lb n="pgo_048.020"/> gab, auf die Erfindung der Lyra geführt wurde, hat das alte Hellas die <lb n="pgo_048.021"/> Dichtgattungen und die Musik gemeinsam entwickelt. Zur lesbischen <lb n="pgo_048.022"/> Barbitos sangen Alkaeos und Sappho ihre liebeathmenden Strophen, <lb n="pgo_048.023"/> Flöten begleiteten das heitere Skolion nach der Mahlzeit und des Tyrtäos <lb n="pgo_048.024"/> kampflustige Distichen, die Nänien und Epitaphien an der Verbrennungsstätte <lb n="pgo_048.025"/> und am Grabhügel der Todten und die Epinikien des Pindar. Auch <lb n="pgo_048.026"/> der von keinem Jnstrumente begleitete Gesang, den die Alten nach <lb n="pgo_048.027"/> Varro „<foreign xml:lang="lat">assa vox</foreign>“ nannten, war ihnen bekannt. Die chorische Lyrik <lb n="pgo_048.028"/> des Stesichoros wurde ein Theil der Tragödie, und so gesellte sich die <lb n="pgo_048.029"/> dramatische Poesie dem Chorgesang und Klang der Jnstrumente. Aus <lb n="pgo_048.030"/> diesem innigen Bunde aber rissen sich Dichtkunst und Musik wieder los, <lb n="pgo_048.031"/> um in selbstständiger Entwickelung nach gesonderten Zielen zu ringen. <lb n="pgo_048.032"/> Wenn sie sich wieder gesellten: so geschah es nicht ohne Opfer von der </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [48/0070]
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Um die reiche Gedankenwelt zu veranschaulichen, hat der Dichter pgo_048.002
andere Mittel, als der Maler, dessen allegorische Darstellung nicht der pgo_048.003
äußeren Attribute entbehren kann, um nur annähernd die Bestimmtheit pgo_048.004
eines in eine Gestalt verwandelten Begriffes darzustellen. Der Dichter pgo_048.005
begiebt sich daher seines Vorzuges, wenn er, wie Horaz, die Nothwendigkeit pgo_048.006
mit eisernen Haken und Nägeln darstellt. Dies ist schlechte und pgo_048.007
mit Recht getadelte Malerei; denn der Dichter macht hier unnöthigerweise pgo_048.008
die Schranke dieser Kunst zur seinigen. Er muß die Nothwendigkeit pgo_048.009
schildern durch ihre lebendigen Wirkungen, durch welche sie sich als die pgo_048.010
eiserne Macht in den Geschicken der Einzelnen und der Völker offenbart.
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Diese Winke mögen genügen, um zu zeigen, inwieweit und wie das pgo_048.012
Malerische in der Poesie auftreten darf. Nur die geistig und sinnlich pgo_048.013
bewegte Schilderung findet hier ihre Stätte, während die ungebührliche pgo_048.014
Breite des malenden Elementes die Poesie in Prosa auflöst.
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Vierter Abschnitt. pgo_048.016
Die Dichtkunst und die Musik. pgo_048.017
Der Bund dieser beiden Künste und ihre Unzertrennlichkeit ist historisch pgo_048.018
älter als ihr selbstständiges Bestehen. Seit der geflügelte Götterbote mit pgo_048.019
seinem Fuße die Schildkröte berührt und durch den Ton, den sie von sich pgo_048.020
gab, auf die Erfindung der Lyra geführt wurde, hat das alte Hellas die pgo_048.021
Dichtgattungen und die Musik gemeinsam entwickelt. Zur lesbischen pgo_048.022
Barbitos sangen Alkaeos und Sappho ihre liebeathmenden Strophen, pgo_048.023
Flöten begleiteten das heitere Skolion nach der Mahlzeit und des Tyrtäos pgo_048.024
kampflustige Distichen, die Nänien und Epitaphien an der Verbrennungsstätte pgo_048.025
und am Grabhügel der Todten und die Epinikien des Pindar. Auch pgo_048.026
der von keinem Jnstrumente begleitete Gesang, den die Alten nach pgo_048.027
Varro „assa vox“ nannten, war ihnen bekannt. Die chorische Lyrik pgo_048.028
des Stesichoros wurde ein Theil der Tragödie, und so gesellte sich die pgo_048.029
dramatische Poesie dem Chorgesang und Klang der Jnstrumente. Aus pgo_048.030
diesem innigen Bunde aber rissen sich Dichtkunst und Musik wieder los, pgo_048.031
um in selbstständiger Entwickelung nach gesonderten Zielen zu ringen. pgo_048.032
Wenn sie sich wieder gesellten: so geschah es nicht ohne Opfer von der
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