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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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auseinandergesetzt; aber gerade die Schärfe seiner Bestimmungen läßt sie pgo_038.002
leicht einseitig erscheinen, wenn sie nicht einer erweiternden Auslegung pgo_038.003
theilhaft werden. Körper sind nach ihm der Gegenstand der Malerei; pgo_038.004
Handlungen der Gegenstand der Poesie. Doch Körper existiren nicht pgo_038.005
allein im Raume, sondern auch in der Zeit. Jede Erscheinung ist pgo_038.006
Wirkung einer vorhergehenden, Ursache einer folgenden, und somit das pgo_038.007
Centrum einer Handlung. Folglich kann die Malerei auch Handlungen pgo_038.008
nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper. Auf der andern pgo_038.009
Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen pgo_038.010
gewissen Wesen anhängen. Jnsofern nun diese Wesen Körper sind oder pgo_038.011
als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur pgo_038.012
andeutungsweise durch Handlungen. Die Malerei kann in ihren pgo_038.013
coexistirenden Compositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung pgo_038.014
nützen und muß daher den prägnantesten wählen. Ebenso kann pgo_038.015
die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige pgo_038.016
Eigenschaft der Körper nützen und muß daher diejenige wählen, welche pgo_038.017
das sinnlichste Bild des Körpers von der Seite erweckt, von welcher sie pgo_038.018
ihn braucht.

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Lessing spricht vorzugsweise von der epischen und dramatischen pgo_038.020
Poesie
und vom historischen Gemälde: darum die Beschränkung pgo_038.021
der Poesie auf Handlungen. Jm weitern Sinne müßte man dann pgo_038.022
Empfindungen, insofern sie auch in der Zeit aufeinanderfolgen, die pgo_038.023
innern Handlungen der Seele nennen. Oder glaubt Lessing die innere pgo_038.024
Welt der Seele, die Empfindung ausschließen zu müssen, weil hier der pgo_038.025
Vergleichungspunkt zwischen Malerei und Dichtkunst fortfällt? Fast pgo_038.026
scheint es so, denn er sagt vorher: "Jch will bei den Gemälden blos sichtbarer pgo_038.027
Gegenstände stehen bleiben, die dem Dichter und Maler gemein pgo_038.028
sind." Freilich malt der Künstler blos "Sichtbares," aber die Empfindung pgo_038.029
ist damit nicht ausgeschlossen. Ein Landschaftsbild z. B. ist nur pgo_038.030
dann gelungen, wenn es eine bestimmte Stimmung der Seele pgo_038.031
athmet. Lessing vergißt die Lyrik und die ihr entsprechende Landschaftsmalerei, pgo_038.032
weil er eine zu scharf ausgeprägte Verstandesnatur pgo_038.033
war, um sich auf diesem Gebiete der Jnnerlichkeit heimisch zu fühlen. pgo_038.034
Für die Poetik gestaltet sich die Frage so: inwieweit und wie darf pgo_038.035
der Dichter malen? Zunächst steht fest, daß das Malerische nie der

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als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur pgo_038.012
andeutungsweise durch Handlungen. Die Malerei kann in ihren pgo_038.013
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ihn braucht.

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Lessing spricht vorzugsweise von der epischen und dramatischen pgo_038.020
Poesie
und vom historischen Gemälde: darum die Beschränkung pgo_038.021
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/60>, abgerufen am 02.05.2024.