Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_412.001
Was die Angemessenheit der Charakteristik betrifft, so erläutert pgo_412.002
sich diese Forderung von selbst. Horaz in seiner "Epistel an die Pisonen" pgo_412.003
(114 und folg.) erwähnt eine doppelte Angemessenheit, zunächst pgo_412.004
eine ethische:

pgo_412.005
Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros; pgo_412.006
Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend pgo_412.007
Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme, pgo_412.008
Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens; pgo_412.009
Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog;

pgo_412.010
dann aber eine historische:

pgo_412.011
Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles, pgo_412.012
Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer, pgo_412.013
Sag' er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte. pgo_412.014
Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet, pgo_412.015
Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes.
pgo_412.016

(Nach Voß.)

pgo_412.017
Dagegen können wir aus der von Aristoteles verlangten Gleichartigkeit pgo_412.018
einige für das Drama der Gegenwart ersprießliche Folgerungen pgo_412.019
ziehn. Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der pgo_412.020
Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein. pgo_412.021
"Für den Römer," sagt Schiller, "hat der Richterspruch des ersten Brutus, pgo_412.022
der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen pgo_412.023
und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen, pgo_412.024
folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der pgo_412.025
besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen pgo_412.026
zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher pgo_412.027
Annahme der letzteren fähig sein." Der moderne Dichter, der pgo_412.028
heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden; pgo_412.029
denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus pgo_412.030
Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt, pgo_412.031
verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten pgo_412.032
frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus pgo_412.033
seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen: pgo_412.034
der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen pgo_412.035
und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese "Gleichartigkeit"

pgo_412.001
Was die Angemessenheit der Charakteristik betrifft, so erläutert pgo_412.002
sich diese Forderung von selbst. Horaz in seiner „Epistel an die Pisonen“ pgo_412.003
(114 und folg.) erwähnt eine doppelte Angemessenheit, zunächst pgo_412.004
eine ethische:

pgo_412.005
Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros; pgo_412.006
Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend pgo_412.007
Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme, pgo_412.008
Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens; pgo_412.009
Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog;

pgo_412.010
dann aber eine historische:

pgo_412.011
Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles, pgo_412.012
Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer, pgo_412.013
Sag' er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte. pgo_412.014
Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet, pgo_412.015
Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes.
pgo_412.016

(Nach Voß.)

pgo_412.017
Dagegen können wir aus der von Aristoteles verlangten Gleichartigkeit pgo_412.018
einige für das Drama der Gegenwart ersprießliche Folgerungen pgo_412.019
ziehn. Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der pgo_412.020
Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein. pgo_412.021
„Für den Römer,“ sagt Schiller, „hat der Richterspruch des ersten Brutus, pgo_412.022
der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen pgo_412.023
und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen, pgo_412.024
folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der pgo_412.025
besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen pgo_412.026
zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher pgo_412.027
Annahme der letzteren fähig sein.“ Der moderne Dichter, der pgo_412.028
heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden; pgo_412.029
denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus pgo_412.030
Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt, pgo_412.031
verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten pgo_412.032
frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus pgo_412.033
seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen: pgo_412.034
der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen pgo_412.035
und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese „Gleichartigkeit“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0434" n="412"/>
              <p><lb n="pgo_412.001"/>
Was die <hi rendition="#g">Angemessenheit</hi> der Charakteristik betrifft, so erläutert <lb n="pgo_412.002"/>
sich diese Forderung von selbst. <hi rendition="#g">Horaz</hi> in seiner &#x201E;Epistel an die Pisonen&#x201C; <lb n="pgo_412.003"/>
(114 und folg.) erwähnt eine doppelte Angemessenheit, zunächst <lb n="pgo_412.004"/>
eine <hi rendition="#g">ethische:</hi></p>
              <lb n="pgo_412.005"/>
              <lg>
                <l>Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros;</l>
                <lb n="pgo_412.006"/>
                <l>Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend</l>
                <lb n="pgo_412.007"/>
                <l>Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme,</l>
                <lb n="pgo_412.008"/>
                <l>Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens;</l>
                <lb n="pgo_412.009"/>
                <l>Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog;</l>
              </lg>
              <p><lb n="pgo_412.010"/>
dann aber eine <hi rendition="#g">historische:</hi></p>
              <lb n="pgo_412.011"/>
              <lg>
                <l>Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles,</l>
                <lb n="pgo_412.012"/>
                <l>Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer,</l>
                <lb n="pgo_412.013"/>
                <l>Sag' er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte.</l>
                <lb n="pgo_412.014"/>
                <l>Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet,</l>
                <lb n="pgo_412.015"/>
                <l>Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes.</l>
              </lg>
              <lb n="pgo_412.016"/>
              <p> <hi rendition="#right">(Nach <hi rendition="#g">Voß</hi>.)</hi> </p>
              <p><lb n="pgo_412.017"/>
Dagegen können wir aus der von <hi rendition="#g">Aristoteles</hi> verlangten <hi rendition="#g">Gleichartigkeit</hi> <lb n="pgo_412.018"/>
einige für das Drama der Gegenwart ersprießliche Folgerungen <lb n="pgo_412.019"/>
ziehn. Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der <lb n="pgo_412.020"/>
Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein. <lb n="pgo_412.021"/>
&#x201E;Für den Römer,&#x201C; sagt Schiller, &#x201E;hat der Richterspruch des ersten Brutus, <lb n="pgo_412.022"/>
der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen <lb n="pgo_412.023"/>
und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen, <lb n="pgo_412.024"/>
folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der <lb n="pgo_412.025"/>
besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen <lb n="pgo_412.026"/>
zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher <lb n="pgo_412.027"/>
Annahme der letzteren fähig sein.&#x201C; Der moderne Dichter, der <lb n="pgo_412.028"/>
heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden; <lb n="pgo_412.029"/>
denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus <lb n="pgo_412.030"/>
Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt, <lb n="pgo_412.031"/>
verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten <lb n="pgo_412.032"/>
frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus <lb n="pgo_412.033"/>
seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen: <lb n="pgo_412.034"/>
der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen <lb n="pgo_412.035"/>
und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese &#x201E;Gleichartigkeit&#x201C;
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[412/0434] pgo_412.001 Was die Angemessenheit der Charakteristik betrifft, so erläutert pgo_412.002 sich diese Forderung von selbst. Horaz in seiner „Epistel an die Pisonen“ pgo_412.003 (114 und folg.) erwähnt eine doppelte Angemessenheit, zunächst pgo_412.004 eine ethische: pgo_412.005 Viel verschlägt's, ob ein Gott sei der redende oder ein Heros; pgo_412.006 Ob ihn das Alter gereift, ob er noch von blühender Jugend pgo_412.007 Braus', ob stolze Matron' auftret', ob geschäftige Amme, pgo_412.008 Ob weitschweifender Krämer, ob Wirth des befruchteten Gütchens; pgo_412.009 Kolcher oder Assyrer, ob Theb', ob Argos ihn aufzog; pgo_412.010 dann aber eine historische: pgo_412.011 Stellst du von neuem in Schrift den ehrenvollen Achilles, pgo_412.012 Feuriges Muths, jähzornig, ein unerbittlicher Rächer, pgo_412.013 Sag' er der Rechte sich los; nichts bleib' unertrotzt mit dem Schwerte. pgo_412.014 Frech sei Medea gesinnt, unerschütterlich; Jno bethränet, pgo_412.015 Jo gescheucht; Jxion verrätherisch, finster Orestes. pgo_412.016 (Nach Voß.) pgo_412.017 Dagegen können wir aus der von Aristoteles verlangten Gleichartigkeit pgo_412.018 einige für das Drama der Gegenwart ersprießliche Folgerungen pgo_412.019 ziehn. Die Charaktere müssen einerseits der Empfindungsweise der pgo_412.020 Zeit und Nation, andererseits der allgemein menschlichen gleichartig sein. pgo_412.021 „Für den Römer,“ sagt Schiller, „hat der Richterspruch des ersten Brutus, pgo_412.022 der Selbstmord des Cato subjektive Wahrheit. Die Vorstellungen pgo_412.023 und Gefühle, aus denen die Handlungen dieser beiden Männer fließen, pgo_412.024 folgen nicht unmittelbar aus der allgemeinen, sondern mittelbar aus der pgo_412.025 besonders bestimmten menschlichen Natur. Um diese Gefühle mit ihnen pgo_412.026 zu theilen, muß man eine römische Gesinnung besitzen, oder doch zu augenblicklicher pgo_412.027 Annahme der letzteren fähig sein.“ Der moderne Dichter, der pgo_412.028 heutzutage einen Brutus und Cato wählt, vergreift sich in seinem Helden; pgo_412.029 denn ihnen fehlt die Gleichartigkeit für unsere Zeit. Siegfried, der aus pgo_412.030 Treue gegen seinen Lehnsherrn die Brunhild in der Brautnacht bändigt, pgo_412.031 verstößt gegen die Empfindungsweise unserer Zeit! Wer aber seine Gestalten pgo_412.032 frisch aus dem Geiste seines Jahrhunderts herausschafft, aus pgo_412.033 seinem Denken, Glauben und Fühlen, aus seinen sittlichen Voraussetzungen: pgo_412.034 der erreicht die rechte Gleichartigkeit, welche den Beifall der Zeitgenossen pgo_412.035 und das Jnteresse der Nachwelt zur Folge hat. Diese „Gleichartigkeit“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/434
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/434>, abgerufen am 23.11.2024.