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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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schließt auch die paradoxe Charakteristik aus, die sowohl bei pgo_413.002
den Zeitgenossen Shakespeare's, einem Massinger, Ford u. A., als pgo_413.003
auch bei Hebbel, Ludwig, Meißner in neuer Zeit beliebt ist. Ausnahmenaturen pgo_413.004
und Ausnahmemotive können kein allgemeinmenschliches pgo_413.005
Jnteresse erwecken. Eine Leidenschaft, wie der Ehrgeiz des "Macbeth," pgo_413.006
die Eifersucht des "Othello," die, Allen gemeinsam, vom Dramatiker nur pgo_413.007
zu tragischer Größe gesteigert wird, erweckt durch ihre Gleichartigkeit pgo_413.008
unsere Sympathie; aber die befremdende Handlungsweise von Massinger's pgo_413.009
"Sforza" und Hebbel's "Herodes," von Massinger's "Molefort" pgo_413.010
und Hebbel's "Graf Bertram," das Abnorme, Krankhafte, organisch pgo_413.011
Fehlerhafte, die Marotte als Motiv der Tragödie, das verstößt gegen pgo_413.012
jenes nicht genug hervorzuhebende Grundgesetz des Aristoteles. Die pgo_413.013
Konsequenz der Charakteristik, die vierte Forderung des Stagiriten, pgo_413.014
das Verharren des Charakters auf seinem Schwerpunkte, schließt natürlich pgo_413.015
die Zeichnung eines inkonsequenten Charakters nicht aus, der nur pgo_413.016
ebenfalls in seinem ganzen Wesen mit Treue durchgeführt sein muß. Doch pgo_413.017
scheint es bedenklich, inkonsequente Charaktere in den Vordergrund des pgo_413.018
Drama zu stellen, da ihr beständiges Abspringen von der geraden Linie pgo_413.019
den energischen Verlauf der Handlung stört.

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Diese Handlung selbst bedarf nun der Einheit; alle ihre Fäden pgo_413.021
müssen in einem bestimmten Knotenpunkte zusammentreffen. Schon pgo_413.022
Aristoteles nennt die Tragödie die Nachbildung einer abgeschlossenen und pgo_413.023
vollständigen Handlung, die einen gewissen Umfang hat. (VII. 2.) Die pgo_413.024
Einheit der Handlung ist eine einfache, wenn überhaupt nur eine pgo_413.025
Handlung dem Drama zu Grunde liegt, eine zusammengesetzte, pgo_413.026
wenn zwei oder mehrere, anfangs mit anscheinender Selbstständigkeit pgo_413.027
abgezweigte Handlungen sich im Verlaufe des Dramas zu einem Hauptstamme pgo_413.028
vereinigen. Diese Kompositionsweise war im altenglischen pgo_413.029
Drama sehr beliebt, -- Shakespeare gab ihr eine tiefere Bedeutung, pgo_413.030
indem er nicht nur die äußerliche Vereinigung mehrerer Handlungen zu pgo_413.031
einem Ganzen mit großer Gewandtheit bewerkstelligte, sondern ihnen auch pgo_413.032
von Anfang an eine innere Beziehung zu einander gab, indem jede den pgo_413.033
gleichen Grundgedanken des Dramas spiegelte. Lear und Gloster, pgo_413.034
Antonio und Shylock neben Bassanio und Portia sind hierfür erläuternde pgo_413.035
Beispiele. Die Einheit der Handlung fehlt, wenn sich zwei Helden

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/435>, abgerufen am 23.11.2024.