pgo_411.001 die Schiller'schen Tragödieen vollkommen dem Grundsatze des pgo_411.002 Aristoteles, nur den "Carlos" und "Tell" ausgenommen, und verdanken pgo_411.003 dem energischen Fortgang der Handlung ihre großen und verdienten pgo_411.004 Erfolge.
pgo_411.005 Was die dramatischen Charaktere betrifft, so verlangt Aristoteles, daß pgo_411.006 sie edel, angemessen, gleichartig und konsequent seien. Aristoteles pgo_411.007 spricht nur von der Tragödie, und von ihr, der Nachahmung des pgo_411.008 Edleren, verlangt er eine Charakteristik "nach Art der guten Portraitmaler, pgo_411.009 welche, indem sie die individuelle Gestalt wiedergeben, sie zugleich pgo_411.010 wohlgetroffen und idealisirt malen." Diese Jdealität erleidet daher in pgo_411.011 der Komödie einige Modifikationen, obgleich die derbe Realität auch hier pgo_411.012 in den freieren Farben des Humors schimmern muß. Schon das Gleichniß pgo_411.013 des Aristoteles giebt dem Dramatiker ein Recht, die Fülle der Eigenthümlichkeit pgo_411.014 zu entwickeln, wenn sie nur mit dem Schimmer der Jdealität pgo_411.015 bekleidet ist, das schärfste Profil zu malen, aber nicht die Narben, Warzen pgo_411.016 u. s. f. Die ideale Haltung darf nur nicht in das Aetherische übergehn, pgo_411.017 weder den Charakter zu einem Musterbild des Guten, zu einer Mosaik pgo_411.018 von lauter vortrefflichen Eigenschaften machen, noch in seiner Darstellung pgo_411.019 allzufeine Tinten der Seelenmalerei wählen, indem die innern Wallungen pgo_411.020 der Schönseligkeit keine dramatische Handlung gestalten können. Auf pgo_411.021 der andern Seite ist das inkarnirt Böse, die absolute moralische Mißgestalt, pgo_411.022 fehlerhaft, wenn sie, wie z. B. Franz Moor, nur als eine individuelle pgo_411.023 Verkrüppelung erscheint! Jst diese diabolische Energie dagegen pgo_411.024 nur das Gegenbild einer schwächlich verkümmerten Welt, wie Richard III., pgo_411.025 so gewinnt das Böse, als das Dämonische der Menschheit, eine höhere Berechtigung. pgo_411.026 Ueberhaupt ist auch das absolut Böse noch immer dramatischer, pgo_411.027 als das absolut Gute, weil es mit Energie seine bestimmten Zwecke verfolgt. pgo_411.028 Dies Dämonische der Leidenschaft aber, welche den Menschen von That pgo_411.029 zu That fortreißt und immer tiefer in das Gewebe des Bösen verstrickt, pgo_411.030 ist wahrhaft tragisch -- wir weisen nur auf Macbeth und Othello hin. pgo_411.031 Ueberhaupt bedürfen die dramatischen Charaktere der Energie. Denn pgo_411.032 nur durch diese Energie identificiren sie sich mit den Zwecken, die sie verfolgen, pgo_411.033 woraus die dramatische Spannung und das Jnteresse an der pgo_411.034 Handlung hervorgeht. Schwächliche und schwankende Charaktere können pgo_411.035 dies Jnteresse nicht erwecken, da sie nur halb sich ihren Zwecken hingeben.
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pgo_411.005 Was die dramatischen Charaktere betrifft, so verlangt Aristoteles, daß pgo_411.006 sie edel, angemessen, gleichartig und konsequent seien. Aristoteles pgo_411.007 spricht nur von der Tragödie, und von ihr, der Nachahmung des pgo_411.008 Edleren, verlangt er eine Charakteristik „nach Art der guten Portraitmaler, pgo_411.009 welche, indem sie die individuelle Gestalt wiedergeben, sie zugleich pgo_411.010 wohlgetroffen und idealisirt malen.“ Diese Jdealität erleidet daher in pgo_411.011 der Komödie einige Modifikationen, obgleich die derbe Realität auch hier pgo_411.012 in den freieren Farben des Humors schimmern muß. Schon das Gleichniß pgo_411.013 des Aristoteles giebt dem Dramatiker ein Recht, die Fülle der Eigenthümlichkeit pgo_411.014 zu entwickeln, wenn sie nur mit dem Schimmer der Jdealität pgo_411.015 bekleidet ist, das schärfste Profil zu malen, aber nicht die Narben, Warzen pgo_411.016 u. s. f. Die ideale Haltung darf nur nicht in das Aetherische übergehn, pgo_411.017 weder den Charakter zu einem Musterbild des Guten, zu einer Mosaik pgo_411.018 von lauter vortrefflichen Eigenschaften machen, noch in seiner Darstellung pgo_411.019 allzufeine Tinten der Seelenmalerei wählen, indem die innern Wallungen pgo_411.020 der Schönseligkeit keine dramatische Handlung gestalten können. Auf pgo_411.021 der andern Seite ist das inkarnirt Böse, die absolute moralische Mißgestalt, pgo_411.022 fehlerhaft, wenn sie, wie z. B. Franz Moor, nur als eine individuelle pgo_411.023 Verkrüppelung erscheint! Jst diese diabolische Energie dagegen pgo_411.024 nur das Gegenbild einer schwächlich verkümmerten Welt, wie Richard III., pgo_411.025 so gewinnt das Böse, als das Dämonische der Menschheit, eine höhere Berechtigung. pgo_411.026 Ueberhaupt ist auch das absolut Böse noch immer dramatischer, pgo_411.027 als das absolut Gute, weil es mit Energie seine bestimmten Zwecke verfolgt. pgo_411.028 Dies Dämonische der Leidenschaft aber, welche den Menschen von That pgo_411.029 zu That fortreißt und immer tiefer in das Gewebe des Bösen verstrickt, pgo_411.030 ist wahrhaft tragisch — wir weisen nur auf Macbeth und Othello hin. pgo_411.031 Ueberhaupt bedürfen die dramatischen Charaktere der Energie. Denn pgo_411.032 nur durch diese Energie identificiren sie sich mit den Zwecken, die sie verfolgen, pgo_411.033 woraus die dramatische Spannung und das Jnteresse an der pgo_411.034 Handlung hervorgeht. Schwächliche und schwankende Charaktere können pgo_411.035 dies Jnteresse nicht erwecken, da sie nur halb sich ihren Zwecken hingeben.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/433>, abgerufen am 23.11.2024.
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