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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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spielenden Witzes würde durch einen selbstständigen Anbau des Epigramms pgo_400.002
erleichtert werden -- seine Bienenstöcke würden dann aus unsern pgo_400.003
lyrischen Blumengärten entschwinden.

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2. Das Lehrgedicht.

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Das Lehrgedicht ist die in eine dichterische Form gekleidete Auseinandersetzung pgo_400.006
irgend eines Gegenstandes aus dem Gebiete der Moral, pgo_400.007
des Lebens, der Wissenschaft und Kunst. Hier hört die freie Durchdringung pgo_400.008
von Form und Jnhalt auf; der bestimmte einseitige Zweck verdrängt pgo_400.009
den Selbstzweck der Schönheit, um so mehr, als die wissenschaftliche Analyse, pgo_400.010
deren sich das Lehrgedicht in Definitionen, weitläufigen Erörterungen, pgo_400.011
welche das Ganze in seine Theile auseinandernehmen, bedient, der pgo_400.012
poetischen Synthese geradezu entgegengesetzt ist. Wir haben dies schon pgo_400.013
früher, bei dem beschreibenden Gedicht, erwähnt, das ebenfalls durch den pgo_400.014
analytischen Gang, durch die Mosaik von Einzelnheiten den poetischen pgo_400.015
Zauber einbüßt. Beide Dichtformen sind für die Gegenwart verschollen, pgo_400.016
von ihrer ästhetischen Bildung verurtheilt und haben deshalb nur noch pgo_400.017
das Jnteresse einer geschichtlichen Kuriosität. Von diesem Gesichtspunkte pgo_400.018
aus bleibt der Aesthetik nur noch der kurze literarhistorische Nachweis pgo_400.019
übrig, an wie vielen Stoffen sich diese lehrhafte Muse versucht.

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Der Grieche Hesiod beginnt mit seinen "Tagen und Werken," die pgo_400.021
reich an nüchternen Beschreibungen im Kalenderstyl, an Regeln der pgo_400.022
Lebensweisheit, der Oekonomie u. s. f. sind, den Reigen. Die patriarchalische pgo_400.023
Einfachheit der Lebenszustände übt hier auf uns noch einen poetischen pgo_400.024
Reiz aus. Jn Virgil's "Georgika" verschwindet dieser Reiz, trotz pgo_400.025
einzelner glänzender Schilderungen, gegen die weit ausgeführte Prosa der pgo_400.026
Agrikultur. Gedichte wie Ovid's "ars amandi" und des Lucretius pgo_400.027
"de rerum natura" erheben sich, indem sie Stoffe der Empfindung und pgo_400.028
des Gedankens behandeln, über das Niveau der blos technischen Lehrgedichte. pgo_400.029
Auch die "ars poetica" des Horaz und die Poetiken des pgo_400.030
Vida, Pope und Boileau finden in ihrem Stoff einige dichterische pgo_400.031
Oasen. Jn neuerer Zeit hat Tiedge's sentimental-religiöse "Urania" pgo_400.032
einen mehr elegisch-lyrischen Charakter. Wir fügen hier einen nicht einmal pgo_400.033
vollständigen Katalog der literarhistorischen Kuriositätensammlung pgo_400.034
des Lehrgedichtes bei.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/422>, abgerufen am 19.05.2024.