Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_399.001
Die Erwartung wird durch die episch objektive Darstellung pgo_399.002
erregt; der Aufschluß tritt als überraschende sinnige Deutung auf. pgo_399.003
Wesentlich für das Epigramm ist, daß es aus diesen beiden Theilen pgo_399.004
besteht, daß jeder scharf ausgeprägt ist, daß das Bild nicht mit andern pgo_399.005
Zügen ausgemalt wird, als sie die Deutung erfordert, weil sonst der Aufschluß pgo_399.006
eine noch auf Weiteres gerichtete Erwartung nicht befriedigen pgo_399.007
würde. Der bloße Denkspruch ist ebensowenig Epigramm, wie das pgo_399.008
kurze Histörchen -- dort fehlt die Erwartung, hier der Aufschluß. pgo_399.009
Jenes sind Gnomen, Weisheitssprüche, dies Anekdoten im pgo_399.010
Lapidarstyl. Die epigrammatischen Bienen unterscheiden sich noch von pgo_399.011
den Heuschreckenschwärmen einer moralisirenden Gnomik. Jn der pgo_399.012
Bibel, in der griechischen Anthologie, in den orientalischen Frucht- und pgo_399.013
Rosengärten finden sich zahlreiche Gnomen -- Salomon und Solon, pgo_399.014
Theognis
und Saadi, Rückert in der "Weisheit des Bramahnen" pgo_399.015
ergehen sich in solchen aphoristischen Offenbarungen. Der schärfste, pgo_399.016
satyrische Epigrammatiker ist der Römer Martial. Seine neulateinischen pgo_399.017
Nachahmer erwähnen wir nicht! Der Franzose Scarron, die pgo_399.018
älteren deutschen Dichter Logau, Wernicke, Kästner, Goethe und pgo_399.019
Schiller in den Xenien, litterarisch-kritischen Epigrammen einer pgo_399.020
anmaßenden Diktatur, haben das Epigramm weiter ausgebildet! Seine pgo_399.021
beliebteste Form ist das Distichon -- schon das einzelne Distichon pgo_399.022
genügt zum Epigramm, als sein vollkommenes formales Schema, indem pgo_399.023
der Hexameter die Erwartung, die sich weit erschließt, der Pentameter pgo_399.024
den kurz zusammenfassenden Aufschluß giebt. Doch eignet sich auch der pgo_399.025
leichtfüßige, kurze Jambus in passenden Reimverschlingungen zum rhythmischen pgo_399.026
Träger des Epigramms. Jn der neuesten Zeit hat man das pgo_399.027
Epigramm in selbstständiger Form wenig ausgebildet -- dagegen durch pgo_399.028
die beliebte Vermischung der Formen, die in allen Uebergangsepochen pgo_399.029
eintritt, die epigrammatische Pointe auf Dichtungen übertragen, pgo_399.030
deren Reinheit sie entstellen muß. Nach Heine's Vorbild ist selbst unsere pgo_399.031
Liederdichtung und Reflexionspoesie von solchen epigrammatischen pgo_399.032
Pointen angekränkelt, welche den musikalischen Schmelz des pgo_399.033
Gefühls und den Schwung des Gedankens zerstören. Eine Befreiung pgo_399.034
der Lyrik von diesen Pointen des Weltschmerzes, der Blasirtheit und des

pgo_399.001
Die Erwartung wird durch die episch objektive Darstellung pgo_399.002
erregt; der Aufschluß tritt als überraschende sinnige Deutung auf. pgo_399.003
Wesentlich für das Epigramm ist, daß es aus diesen beiden Theilen pgo_399.004
besteht, daß jeder scharf ausgeprägt ist, daß das Bild nicht mit andern pgo_399.005
Zügen ausgemalt wird, als sie die Deutung erfordert, weil sonst der Aufschluß pgo_399.006
eine noch auf Weiteres gerichtete Erwartung nicht befriedigen pgo_399.007
würde. Der bloße Denkspruch ist ebensowenig Epigramm, wie das pgo_399.008
kurze Histörchen — dort fehlt die Erwartung, hier der Aufschluß. pgo_399.009
Jenes sind Gnomen, Weisheitssprüche, dies Anekdoten im pgo_399.010
Lapidarstyl. Die epigrammatischen Bienen unterscheiden sich noch von pgo_399.011
den Heuschreckenschwärmen einer moralisirenden Gnomik. Jn der pgo_399.012
Bibel, in der griechischen Anthologie, in den orientalischen Frucht- und pgo_399.013
Rosengärten finden sich zahlreiche GnomenSalomon und Solon, pgo_399.014
Theognis
und Saadi, Rückert in der „Weisheit des Bramahnenpgo_399.015
ergehen sich in solchen aphoristischen Offenbarungen. Der schärfste, pgo_399.016
satyrische Epigrammatiker ist der Römer Martial. Seine neulateinischen pgo_399.017
Nachahmer erwähnen wir nicht! Der Franzose Scarron, die pgo_399.018
älteren deutschen Dichter Logau, Wernicke, Kästner, Goethe und pgo_399.019
Schiller in den Xenien, litterarisch-kritischen Epigrammen einer pgo_399.020
anmaßenden Diktatur, haben das Epigramm weiter ausgebildet! Seine pgo_399.021
beliebteste Form ist das Distichon — schon das einzelne Distichon pgo_399.022
genügt zum Epigramm, als sein vollkommenes formales Schema, indem pgo_399.023
der Hexameter die Erwartung, die sich weit erschließt, der Pentameter pgo_399.024
den kurz zusammenfassenden Aufschluß giebt. Doch eignet sich auch der pgo_399.025
leichtfüßige, kurze Jambus in passenden Reimverschlingungen zum rhythmischen pgo_399.026
Träger des Epigramms. Jn der neuesten Zeit hat man das pgo_399.027
Epigramm in selbstständiger Form wenig ausgebildet — dagegen durch pgo_399.028
die beliebte Vermischung der Formen, die in allen Uebergangsepochen pgo_399.029
eintritt, die epigrammatische Pointe auf Dichtungen übertragen, pgo_399.030
deren Reinheit sie entstellen muß. Nach Heine's Vorbild ist selbst unsere pgo_399.031
Liederdichtung und Reflexionspoesie von solchen epigrammatischen pgo_399.032
Pointen angekränkelt, welche den musikalischen Schmelz des pgo_399.033
Gefühls und den Schwung des Gedankens zerstören. Eine Befreiung pgo_399.034
der Lyrik von diesen Pointen des Weltschmerzes, der Blasirtheit und des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0421" n="399"/><lb n="pgo_399.001"/>
Die <hi rendition="#g">Erwartung</hi> wird durch die episch objektive Darstellung <lb n="pgo_399.002"/>
erregt; der <hi rendition="#g">Aufschluß</hi> tritt als überraschende sinnige Deutung auf. <lb n="pgo_399.003"/>
Wesentlich für das Epigramm ist, daß es aus diesen beiden Theilen <lb n="pgo_399.004"/>
besteht, daß jeder scharf ausgeprägt ist, daß das Bild nicht mit andern <lb n="pgo_399.005"/>
Zügen ausgemalt wird, als sie die Deutung erfordert, weil sonst der Aufschluß <lb n="pgo_399.006"/>
eine noch auf Weiteres gerichtete Erwartung nicht befriedigen <lb n="pgo_399.007"/>
würde. Der bloße <hi rendition="#g">Denkspruch</hi> ist ebensowenig Epigramm, wie das <lb n="pgo_399.008"/>
kurze <hi rendition="#g">Histörchen</hi> &#x2014; dort fehlt die Erwartung, hier der Aufschluß. <lb n="pgo_399.009"/>
Jenes sind <hi rendition="#g">Gnomen, Weisheitssprüche,</hi> dies <hi rendition="#g">Anekdoten</hi> im <lb n="pgo_399.010"/>
Lapidarstyl. Die epigrammatischen <hi rendition="#g">Bienen</hi> unterscheiden sich noch von <lb n="pgo_399.011"/>
den Heuschreckenschwärmen einer moralisirenden <hi rendition="#g">Gnomik.</hi> Jn der <lb n="pgo_399.012"/>
Bibel, in der griechischen Anthologie, in den orientalischen Frucht- und <lb n="pgo_399.013"/>
Rosengärten finden sich zahlreiche <hi rendition="#g">Gnomen</hi> &#x2014; <hi rendition="#g">Salomon</hi> und <hi rendition="#g">Solon, <lb n="pgo_399.014"/>
Theognis</hi> und <hi rendition="#g">Saadi, Rückert</hi> in der &#x201E;<hi rendition="#g">Weisheit des Bramahnen</hi>&#x201C; <lb n="pgo_399.015"/>
ergehen sich in solchen aphoristischen Offenbarungen. Der schärfste, <lb n="pgo_399.016"/>
satyrische Epigrammatiker ist der Römer <hi rendition="#g">Martial.</hi> Seine neulateinischen <lb n="pgo_399.017"/>
Nachahmer erwähnen wir nicht! Der Franzose <hi rendition="#g">Scarron,</hi> die <lb n="pgo_399.018"/>
älteren deutschen Dichter <hi rendition="#g">Logau, Wernicke, Kästner, Goethe</hi> und <lb n="pgo_399.019"/> <hi rendition="#g">Schiller</hi> in den <hi rendition="#g">Xenien,</hi> litterarisch-kritischen Epigrammen einer <lb n="pgo_399.020"/>
anmaßenden Diktatur, haben das Epigramm weiter ausgebildet! Seine <lb n="pgo_399.021"/>
beliebteste Form ist das <hi rendition="#g">Distichon</hi> &#x2014; schon das einzelne Distichon <lb n="pgo_399.022"/>
genügt zum Epigramm, als sein vollkommenes formales Schema, indem <lb n="pgo_399.023"/>
der Hexameter die <hi rendition="#g">Erwartung,</hi> die sich weit erschließt, der Pentameter <lb n="pgo_399.024"/>
den kurz zusammenfassenden <hi rendition="#g">Aufschluß</hi> giebt. Doch eignet sich auch der <lb n="pgo_399.025"/>
leichtfüßige, kurze Jambus in passenden Reimverschlingungen zum rhythmischen <lb n="pgo_399.026"/>
Träger des Epigramms. Jn der neuesten Zeit hat man das <lb n="pgo_399.027"/>
Epigramm in selbstständiger Form wenig ausgebildet &#x2014; dagegen durch <lb n="pgo_399.028"/>
die beliebte Vermischung der Formen, die in allen Uebergangsepochen <lb n="pgo_399.029"/>
eintritt, die <hi rendition="#g">epigrammatische Pointe</hi> auf Dichtungen übertragen, <lb n="pgo_399.030"/>
deren Reinheit sie entstellen muß. Nach Heine's Vorbild ist selbst unsere <lb n="pgo_399.031"/> <hi rendition="#g">Liederdichtung</hi> und <hi rendition="#g">Reflexionspoesie</hi> von solchen epigrammatischen <lb n="pgo_399.032"/>
Pointen angekränkelt, welche den musikalischen Schmelz des <lb n="pgo_399.033"/>
Gefühls und den Schwung des Gedankens zerstören. Eine Befreiung <lb n="pgo_399.034"/>
der Lyrik von diesen Pointen des Weltschmerzes, der Blasirtheit und des
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0421] pgo_399.001 Die Erwartung wird durch die episch objektive Darstellung pgo_399.002 erregt; der Aufschluß tritt als überraschende sinnige Deutung auf. pgo_399.003 Wesentlich für das Epigramm ist, daß es aus diesen beiden Theilen pgo_399.004 besteht, daß jeder scharf ausgeprägt ist, daß das Bild nicht mit andern pgo_399.005 Zügen ausgemalt wird, als sie die Deutung erfordert, weil sonst der Aufschluß pgo_399.006 eine noch auf Weiteres gerichtete Erwartung nicht befriedigen pgo_399.007 würde. Der bloße Denkspruch ist ebensowenig Epigramm, wie das pgo_399.008 kurze Histörchen — dort fehlt die Erwartung, hier der Aufschluß. pgo_399.009 Jenes sind Gnomen, Weisheitssprüche, dies Anekdoten im pgo_399.010 Lapidarstyl. Die epigrammatischen Bienen unterscheiden sich noch von pgo_399.011 den Heuschreckenschwärmen einer moralisirenden Gnomik. Jn der pgo_399.012 Bibel, in der griechischen Anthologie, in den orientalischen Frucht- und pgo_399.013 Rosengärten finden sich zahlreiche Gnomen — Salomon und Solon, pgo_399.014 Theognis und Saadi, Rückert in der „Weisheit des Bramahnen“ pgo_399.015 ergehen sich in solchen aphoristischen Offenbarungen. Der schärfste, pgo_399.016 satyrische Epigrammatiker ist der Römer Martial. Seine neulateinischen pgo_399.017 Nachahmer erwähnen wir nicht! Der Franzose Scarron, die pgo_399.018 älteren deutschen Dichter Logau, Wernicke, Kästner, Goethe und pgo_399.019 Schiller in den Xenien, litterarisch-kritischen Epigrammen einer pgo_399.020 anmaßenden Diktatur, haben das Epigramm weiter ausgebildet! Seine pgo_399.021 beliebteste Form ist das Distichon — schon das einzelne Distichon pgo_399.022 genügt zum Epigramm, als sein vollkommenes formales Schema, indem pgo_399.023 der Hexameter die Erwartung, die sich weit erschließt, der Pentameter pgo_399.024 den kurz zusammenfassenden Aufschluß giebt. Doch eignet sich auch der pgo_399.025 leichtfüßige, kurze Jambus in passenden Reimverschlingungen zum rhythmischen pgo_399.026 Träger des Epigramms. Jn der neuesten Zeit hat man das pgo_399.027 Epigramm in selbstständiger Form wenig ausgebildet — dagegen durch pgo_399.028 die beliebte Vermischung der Formen, die in allen Uebergangsepochen pgo_399.029 eintritt, die epigrammatische Pointe auf Dichtungen übertragen, pgo_399.030 deren Reinheit sie entstellen muß. Nach Heine's Vorbild ist selbst unsere pgo_399.031 Liederdichtung und Reflexionspoesie von solchen epigrammatischen pgo_399.032 Pointen angekränkelt, welche den musikalischen Schmelz des pgo_399.033 Gefühls und den Schwung des Gedankens zerstören. Eine Befreiung pgo_399.034 der Lyrik von diesen Pointen des Weltschmerzes, der Blasirtheit und des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/421
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/421>, abgerufen am 20.05.2024.