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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Jn den "Nibelungen" wie im "Schahname" sind es pgo_347.002
trotzige, auf sich selbst stehende Heroen, dort ein Heidenthum ohne Götter, pgo_347.003
hier ein erhabener Fatalismus! Jn den Gesängen Ossian's vermitteln pgo_347.004
die auf Wolken schwebenden Heldenschatten den Himmel und die Erde!

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Zu den Bedingungen des heroischen Epos, welche allen diesen großartigen pgo_347.006
Gedichten gemeinsam sind, gehört die Selbstständigkeit und pgo_347.007
Unabhängigkeit der kämpfenden Helden, die dem Oberfeldherrn nur als pgo_347.008
freie Bundesgenossen folgen. Der zürnende Achilleus sondert sich mit pgo_347.009
seinen Myrmidonen vom Kampfe ab; ebenso Karna in dem Mahabharata, pgo_347.010
der sich mit Bhishma erzürnt hat. Jn der "Gudrun" sendet Frau pgo_347.011
Hilde Boten zu ihren Freunden, zu Herwig, dem Dänen Horand, pgo_347.012
zu Morung, Frute, Waten von Sturmland, um sie zum Kriegszug nach pgo_347.013
der Normandie aufzufordern. Gleichberechtigte freie Helden ziehn in den pgo_347.014
Kampf! Nur in den "Nibelungen," demjenigen Volksepos, das in seiner pgo_347.015
Motivirung von dramatischer Jnnerlichkeit ist, wird das Vasallenthum pgo_347.016
des Dienstmanns Hagen, der Siegfried ermordet, als ein entscheidendes pgo_347.017
Motiv betont.

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Eine vergleichende Anatomie des Volksepos, zu der Carriere*) pgo_347.019
einige geistvolle Umrisse gegeben, läßt uns zwischen dem indischen, griechischen, pgo_347.020
persischen und deutschen bedeutsame Aehnlichkeiten entdecken. Bei pgo_347.021
allen vier Nationen ist ein feuriger Jugendheld, Karna-Achilleus-Sijawusch-Siegfried, pgo_347.022
die am meisten fesselnde Erscheinung. Korna, der pgo_347.023
Sohn des Sonnengottes, hat von seinem Vater einen undurchdringlichen pgo_347.024
Panzer erhalten; Achilleus ist in den Styx getaucht und nur an der Ferse pgo_347.025
verwundbar; Siegfried ist unverwundbar durch das Blut des erschlagenen pgo_347.026
Drachen Fafnir und nur an einer Stelle zwischen den Schultern verletzlich. pgo_347.027
Alle diese Lichthelden fallen in der Pracht und Blüthe der pgo_347.028
Jugend; sie wahrten nicht ihre Reinheit; sie traten in nähere Berührung pgo_347.029
mit dem feindlichen Element: Achilleus durch seine Ehe mit der Polyxena, pgo_347.030
Sijawusch durch seine Vermählung mit Ferengis, der Tochter Afrasiabs, pgo_347.031
Siegfried durch seine Heirath mit Chriemhild, durch seine Verbindung pgo_347.032
mit den Nibelungen, den Kindern des Abgrundes! Aber im Untergange pgo_347.033
dieser Sonnensöhne liegt zugleich eine ahnungsvolle Wehmuth ausgedrückt,

*) pgo_347.034
Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde.

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[347/0369] pgo_347.001 Jn den „Nibelungen“ wie im „Schahname“ sind es pgo_347.002 trotzige, auf sich selbst stehende Heroen, dort ein Heidenthum ohne Götter, pgo_347.003 hier ein erhabener Fatalismus! Jn den Gesängen Ossian's vermitteln pgo_347.004 die auf Wolken schwebenden Heldenschatten den Himmel und die Erde! pgo_347.005 Zu den Bedingungen des heroischen Epos, welche allen diesen großartigen pgo_347.006 Gedichten gemeinsam sind, gehört die Selbstständigkeit und pgo_347.007 Unabhängigkeit der kämpfenden Helden, die dem Oberfeldherrn nur als pgo_347.008 freie Bundesgenossen folgen. Der zürnende Achilleus sondert sich mit pgo_347.009 seinen Myrmidonen vom Kampfe ab; ebenso Karna in dem Mahabharata, pgo_347.010 der sich mit Bhishma erzürnt hat. Jn der „Gudrun“ sendet Frau pgo_347.011 Hilde Boten zu ihren Freunden, zu Herwig, dem Dänen Horand, pgo_347.012 zu Morung, Frute, Waten von Sturmland, um sie zum Kriegszug nach pgo_347.013 der Normandie aufzufordern. Gleichberechtigte freie Helden ziehn in den pgo_347.014 Kampf! Nur in den „Nibelungen,“ demjenigen Volksepos, das in seiner pgo_347.015 Motivirung von dramatischer Jnnerlichkeit ist, wird das Vasallenthum pgo_347.016 des Dienstmanns Hagen, der Siegfried ermordet, als ein entscheidendes pgo_347.017 Motiv betont. pgo_347.018 Eine vergleichende Anatomie des Volksepos, zu der Carrière *) pgo_347.019 einige geistvolle Umrisse gegeben, läßt uns zwischen dem indischen, griechischen, pgo_347.020 persischen und deutschen bedeutsame Aehnlichkeiten entdecken. Bei pgo_347.021 allen vier Nationen ist ein feuriger Jugendheld, Karna-Achilleus-Sijawusch-Siegfried, pgo_347.022 die am meisten fesselnde Erscheinung. Korna, der pgo_347.023 Sohn des Sonnengottes, hat von seinem Vater einen undurchdringlichen pgo_347.024 Panzer erhalten; Achilleus ist in den Styx getaucht und nur an der Ferse pgo_347.025 verwundbar; Siegfried ist unverwundbar durch das Blut des erschlagenen pgo_347.026 Drachen Fafnir und nur an einer Stelle zwischen den Schultern verletzlich. pgo_347.027 Alle diese Lichthelden fallen in der Pracht und Blüthe der pgo_347.028 Jugend; sie wahrten nicht ihre Reinheit; sie traten in nähere Berührung pgo_347.029 mit dem feindlichen Element: Achilleus durch seine Ehe mit der Polyxena, pgo_347.030 Sijawusch durch seine Vermählung mit Ferengis, der Tochter Afrasiabs, pgo_347.031 Siegfried durch seine Heirath mit Chriemhild, durch seine Verbindung pgo_347.032 mit den Nibelungen, den Kindern des Abgrundes! Aber im Untergange pgo_347.033 dieser Sonnensöhne liegt zugleich eine ahnungsvolle Wehmuth ausgedrückt, *) pgo_347.034 Wesen und Formen der Dichtkunst S. 305 u. flgde.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/369>, abgerufen am 11.05.2024.