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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Geschichte, ihre eigene Lebenswirklichkeit. Doch in den Aether der olympischen pgo_346.002
Heiterkeit getaucht, darf kein rauher Konflikt sie berühren. Wohl pgo_346.003
wagt der kühne Diomedes, Aphrodite mit der Lanze zu verwunden durch pgo_346.004
die unsichtbarmachende, von den Chariten selber gewebte Hülle. Laut schreit pgo_346.005
die Göttin auf; unsterbliches Blut, klarer Saft rinnt aus der Wunde, und pgo_346.006
die Schmerzbetäubte trägt die windschnelle Jris aus dem Getümmel zum pgo_346.007
Olympos, wo ihre Wunden von Dionen's mütterlicher Hand geheilt werden; pgo_346.008
denn kein sterbliches Loos ist ihr beschieden! Auch Ares schmachtete pgo_346.009
in Fesseln, Here wurde von Amphitryon's Sohn verwundet -- doch kurz pgo_346.010
und vorübergehend ist die Passion der olympischen Götter. Jn ihrer pgo_346.011
Ab- und Zuneigung zu den Sterblichen folgen sie den Eingebungen der pgo_346.012
Laune; sie wählen ihre Günstlinge nach Wohlgefallen. Jhre unsterbliche pgo_346.013
Heiterkeit ist so frei von der Verdumpfung irdischer Moral, daß sie mit pgo_346.014
unermeßlichem Lachen sehn, wie die ehebrecherische Aphrodite mit Ares pgo_346.015
ruht in Liebe gesellt, von den künstlichen Banden des sinnreichen, hinkenden pgo_346.016
Gatten gefesselt! Und der Argostödter Hermes empfindet nur Neid pgo_346.017
über diese Beschämung, und ruft:

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Band', auch dreimal so viel, unendliche, möchten mich fesseln, pgo_346.019
Und ihr all', o Götter, es schaun und die Göttinnen alle! pgo_346.020
Dennoch ruht' ich gern bei der goldenen Aphrodite.

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Die Götter des Homer sind seine Heroen, den Bedingungen der Sterblichkeit pgo_346.022
entnommen, in selige ätherische Freiheit versetzt! Wie hinter den pgo_346.023
Helden des Homer die Kulturkämpfe des barbarischen Zeitalters: so liegt pgo_346.024
hinter seinen Göttern der ernste Titanenkampf, das Ringen mit den pgo_346.025
Mächten des Abgrundes! Die Olympier und die Helden der Jlias und pgo_346.026
Odyssee befinden sich in der goldenen Mitte einer harmonischen Zeit pgo_346.027
und werden als die Urtypen göttlicher Menschen und menschlicher Götter pgo_346.028
ewig zusammengenannt werden.

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Die indischen Götter des Mahabharata und Ramayana erfreuen sich pgo_346.030
nicht dieser harmonischen Klarheit. Hier wiegt eine theologische Dogmatik pgo_346.031
vor -- mitten in der Schlacht trägt Krishna dem Ardshuna auf pgo_346.032
einem Streitwagen die achtzehn Gesänge umfassende Episode Bhagawatgita pgo_346.033
vor, eine äußerlich eingeschobene mystische Dogmatik! Jm deutschen und pgo_346.034
persischen Volksepos vertritt ein seltsames Zauberwerk, Siegfried's Tarnkappe, pgo_346.035
die raubenden Greifen, der Zauberpfeil der Semiurg, die Göttermaschinerie!

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Geschichte, ihre eigene Lebenswirklichkeit. Doch in den Aether der olympischen pgo_346.002
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Dennoch ruht' ich gern bei der goldenen Aphrodite.

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[346/0368] pgo_346.001 Geschichte, ihre eigene Lebenswirklichkeit. Doch in den Aether der olympischen pgo_346.002 Heiterkeit getaucht, darf kein rauher Konflikt sie berühren. Wohl pgo_346.003 wagt der kühne Diomedes, Aphrodite mit der Lanze zu verwunden durch pgo_346.004 die unsichtbarmachende, von den Chariten selber gewebte Hülle. Laut schreit pgo_346.005 die Göttin auf; unsterbliches Blut, klarer Saft rinnt aus der Wunde, und pgo_346.006 die Schmerzbetäubte trägt die windschnelle Jris aus dem Getümmel zum pgo_346.007 Olympos, wo ihre Wunden von Dionen's mütterlicher Hand geheilt werden; pgo_346.008 denn kein sterbliches Loos ist ihr beschieden! Auch Ares schmachtete pgo_346.009 in Fesseln, Here wurde von Amphitryon's Sohn verwundet — doch kurz pgo_346.010 und vorübergehend ist die Passion der olympischen Götter. Jn ihrer pgo_346.011 Ab- und Zuneigung zu den Sterblichen folgen sie den Eingebungen der pgo_346.012 Laune; sie wählen ihre Günstlinge nach Wohlgefallen. Jhre unsterbliche pgo_346.013 Heiterkeit ist so frei von der Verdumpfung irdischer Moral, daß sie mit pgo_346.014 unermeßlichem Lachen sehn, wie die ehebrecherische Aphrodite mit Ares pgo_346.015 ruht in Liebe gesellt, von den künstlichen Banden des sinnreichen, hinkenden pgo_346.016 Gatten gefesselt! Und der Argostödter Hermes empfindet nur Neid pgo_346.017 über diese Beschämung, und ruft: pgo_346.018 Band', auch dreimal so viel, unendliche, möchten mich fesseln, pgo_346.019 Und ihr all', o Götter, es schaun und die Göttinnen alle! pgo_346.020 Dennoch ruht' ich gern bei der goldenen Aphrodite. pgo_346.021 Die Götter des Homer sind seine Heroen, den Bedingungen der Sterblichkeit pgo_346.022 entnommen, in selige ätherische Freiheit versetzt! Wie hinter den pgo_346.023 Helden des Homer die Kulturkämpfe des barbarischen Zeitalters: so liegt pgo_346.024 hinter seinen Göttern der ernste Titanenkampf, das Ringen mit den pgo_346.025 Mächten des Abgrundes! Die Olympier und die Helden der Jlias und pgo_346.026 Odyssee befinden sich in der goldenen Mitte einer harmonischen Zeit pgo_346.027 und werden als die Urtypen göttlicher Menschen und menschlicher Götter pgo_346.028 ewig zusammengenannt werden. pgo_346.029 Die indischen Götter des Mahabharata und Ramayana erfreuen sich pgo_346.030 nicht dieser harmonischen Klarheit. Hier wiegt eine theologische Dogmatik pgo_346.031 vor — mitten in der Schlacht trägt Krishna dem Ardshuna auf pgo_346.032 einem Streitwagen die achtzehn Gesänge umfassende Episode Bhagawatgita pgo_346.033 vor, eine äußerlich eingeschobene mystische Dogmatik! Jm deutschen und pgo_346.034 persischen Volksepos vertritt ein seltsames Zauberwerk, Siegfried's Tarnkappe, pgo_346.035 die raubenden Greifen, der Zauberpfeil der Semiurg, die Göttermaschinerie!

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/368>, abgerufen am 22.11.2024.