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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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die Psalmen reich sind, fehlt es ihnen doch keineswegs an energischem pgo_297.002
Hymnen-Schwung, wir erinnern an jene Stellen voll großartigster dichterischer pgo_297.003
Jntuition und Schlagkraft, wie: "Er schauet die Erde an, so pgo_297.004
lebt sie; er rühret die Berge an, so rauchen sie."

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Die griechischen Hymnen von Orpheus, Homer und Kallimachos, pgo_297.006
zu denen noch einzelne Chorgesänge des Aeschylos und pgo_297.007
Sophokles zu rechnen sind, wie z. B. im König Oedipus der Gesang pgo_297.008
an die Götter um Abwendung der über Theben verhängten Seuche, pgo_297.009
erreichen die hebräischen nicht in Bezug auf erhabenen Schwung und pgo_297.010
haben einen vorzugsweise epischen Charakter. So enthält die Homerische pgo_297.011
"Hymne" auf Dionysos eigentlich eine Ovidische Metamorphose, indem pgo_297.012
sie eine That und Verwandlung des Gottes in anmuthig anekdotischer pgo_297.013
Form erzählt. Die Siegeshymnen Pindar's, des thebanischen Sängers, pgo_297.014
welche den Preis der Sieger doch immer in den Preis der Götter pgo_297.015
verweben, lassen sich an Schwung und Kühnheit noch am ersten mit den pgo_297.016
biblischen Hymnen vergleichen. Doch sind sie ihnen in Bezug auf die pgo_297.017
Behandlungsweise entgegengesetzt. Die feurige Begeisterung der Propheten pgo_297.018
verzehrte gleichsam in sich alle irdische Bildlichkeit; ihre Phantasie pgo_297.019
schwelgte in den Parallelismen der Bilder, die alle den einen, großen, pgo_297.020
unaussingbaren Gedanken spiegelten. Die Komposition ihrer Hymnen pgo_297.021
und Psalmen war daher von durchsichtiger Einfachheit. Dagegen ist pgo_297.022
gerade die Komposition von Pindar labyrinthisch verschlungen, und das pgo_297.023
Geheimniß seiner Kühnheit besteht in den scheinbar immer abgerissenen pgo_297.024
Gedankenfäden, welche doch zuletzt ein kunstvolles Gewebe bilden. Die pgo_297.025
Hymnen Pindar's sind plastisch, eine Reliefdarstellung der Thaten der pgo_297.026
Helden und Götter wechselt darin mit Weisheitssprüchen, die mit energischen pgo_297.027
Zügen in den Marmor gegraben sind. Auch diese Hymnen liefern pgo_297.028
den Beweis dafür, daß die Lyrik der Griechen sich nie ganz von der Epik pgo_297.029
losgerungen hat. Man vergleiche im vierten pythischen Gesange die pgo_297.030
Schilderung des Argonautenzuges, im dritten die Geschichte des Asklepios, pgo_297.031
im neunten die der Nymphe Kyrena. Kein Gesang entbehrt eines epischen pgo_297.032
Schmuckes, keiner gnomischer Weisheitslehren, die allerdings in den pgo_297.033
stolzen Rhythmen und der typischen Fassung wie erhabene Offenbarungen pgo_297.034
eines Orakel spendenden Gottes ertönen.

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Von den Römern kann nur Horaz im würdig-feierlichen "carmen

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/319>, abgerufen am 12.05.2024.