Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_285.001 pgo_285.023 Die Ballade. pgo_285.024 pgo_285.001 pgo_285.023 Die Ballade. pgo_285.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0307" n="285"/><lb n="pgo_285.001"/> Poesie an den klassischen Mustern heranbildeten, gelangte auch das Lied <lb n="pgo_285.002"/> der Kunstpoesie zur Ausbildung, welche durch den Bilderschwulst der <lb n="pgo_285.003"/> zweiten schlesischen Dichterschule indeß wieder erstickt wurde. Erst mit <lb n="pgo_285.004"/> den deutschen Anakreontikern <hi rendition="#g">Gleim, Uz</hi> und <hi rendition="#g">Hagedorn</hi> beginnt eine <lb n="pgo_285.005"/> neue Aera des deutschen Liedes, deren höchsten Gipfelpunkt Goethe bezeichnet. <lb n="pgo_285.006"/> Mit proteusartiger Verwandlungskunst schmiegte sein Genius sich auch <lb n="pgo_285.007"/> in die Formen des Volksliedes und gab ihnen seltene harmonische Weihe, <lb n="pgo_285.008"/> tiefste Jnnigkeit, einen unsagbaren Reiz. Die Lieder „Mignon's,“ <lb n="pgo_285.009"/> das Lied „an den Mond,“ „Schlafe, was willst du mehr“ schlugen die <lb n="pgo_285.010"/> verschiedensten Töne des Volksliedes an, aber sie beseitigten seine rohen <lb n="pgo_285.011"/> Auswüchse und hoben es in einen geläuterten Aether. Die sanften, <lb n="pgo_285.012"/> weichen Liederklänge <hi rendition="#g">Uhland's, Heine's</hi> oft leichte und kecke, oft <lb n="pgo_285.013"/> tiefgefühlte Liederchen, <hi rendition="#g">Eichendorff's</hi> romantisch träumerische, <hi rendition="#g">Hoffmann's <lb n="pgo_285.014"/> von Fallersleben</hi> altdeutsch schlichte und einfache, <hi rendition="#g">Geibel's</hi> <lb n="pgo_285.015"/> harmonisch ansprechende, <hi rendition="#g">Lenau's</hi> melancholische, <hi rendition="#g">Roquette's</hi> jugendfrische <lb n="pgo_285.016"/> Klänge bezeichnen die weitere Entwickelung des deutschen Liedes. <lb n="pgo_285.017"/> Alle Empfindungen der Seele, das Naturbild, die wechselnden Liebesgefühle <lb n="pgo_285.018"/> fanden hier ihre Stätte. Die Liederpoesie des Salons wucherte <lb n="pgo_285.019"/> mit Gesang und Klavierbegleitung — viel Nichtssagendes und Krankhaftes <lb n="pgo_285.020"/> wurde in Musik gesetzt und dadurch populair. Eine Reaktion <lb n="pgo_285.021"/> gegen die Trivialität der Wald- und Mondscheinlieder versuchte die politische <lb n="pgo_285.022"/> Lyrik.</p> </div> <div n="5"> <lb n="pgo_285.023"/> <head> <hi rendition="#c">Die Ballade.</hi> </head> <p><lb n="pgo_285.024"/> Die Ballade ist das <hi rendition="#g">epische Lied,</hi> ein Lied, in welchem der Ton der <lb n="pgo_285.025"/> Stimmung und die sangbare Form vorwaltet, und welches daher das <lb n="pgo_285.026"/> <hi rendition="#g">Ereigniß</hi> ganz in <hi rendition="#g">Empfindung</hi> auflöst. Nur wenn wir diese <lb n="pgo_285.027"/> Begriffsbestimmung in aller Schärfe festhalten, lassen sich die Grenzstreitigkeiten <lb n="pgo_285.028"/> zwischen <hi rendition="#g">Ballade</hi> und <hi rendition="#g">Romanze,</hi> deren Verwirrung <lb n="pgo_285.029"/> durch den schwankenden Gebrauch dieser Ausdrücke von Seiten unserer <lb n="pgo_285.030"/> großen Dichter noch vermehrt ist, ein für allemal grundrechtlich reguliren. <lb n="pgo_285.031"/> Die <hi rendition="#g">Romanze</hi> ist dann eine episch-lyrische Mischgattung, eine kleinere <lb n="pgo_285.032"/> „poetische Erzählung,“ in welcher das Jnteresse des Kolorits und der <lb n="pgo_285.033"/> Schilderung überwiegt und die lyrischen Andeutungen und Sprünge das <lb n="pgo_285.034"/> Element der musikalischen Stimmung, die Sangbarkeit und Kürze, </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [285/0307]
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Poesie an den klassischen Mustern heranbildeten, gelangte auch das Lied pgo_285.002
der Kunstpoesie zur Ausbildung, welche durch den Bilderschwulst der pgo_285.003
zweiten schlesischen Dichterschule indeß wieder erstickt wurde. Erst mit pgo_285.004
den deutschen Anakreontikern Gleim, Uz und Hagedorn beginnt eine pgo_285.005
neue Aera des deutschen Liedes, deren höchsten Gipfelpunkt Goethe bezeichnet. pgo_285.006
Mit proteusartiger Verwandlungskunst schmiegte sein Genius sich auch pgo_285.007
in die Formen des Volksliedes und gab ihnen seltene harmonische Weihe, pgo_285.008
tiefste Jnnigkeit, einen unsagbaren Reiz. Die Lieder „Mignon's,“ pgo_285.009
das Lied „an den Mond,“ „Schlafe, was willst du mehr“ schlugen die pgo_285.010
verschiedensten Töne des Volksliedes an, aber sie beseitigten seine rohen pgo_285.011
Auswüchse und hoben es in einen geläuterten Aether. Die sanften, pgo_285.012
weichen Liederklänge Uhland's, Heine's oft leichte und kecke, oft pgo_285.013
tiefgefühlte Liederchen, Eichendorff's romantisch träumerische, Hoffmann's pgo_285.014
von Fallersleben altdeutsch schlichte und einfache, Geibel's pgo_285.015
harmonisch ansprechende, Lenau's melancholische, Roquette's jugendfrische pgo_285.016
Klänge bezeichnen die weitere Entwickelung des deutschen Liedes. pgo_285.017
Alle Empfindungen der Seele, das Naturbild, die wechselnden Liebesgefühle pgo_285.018
fanden hier ihre Stätte. Die Liederpoesie des Salons wucherte pgo_285.019
mit Gesang und Klavierbegleitung — viel Nichtssagendes und Krankhaftes pgo_285.020
wurde in Musik gesetzt und dadurch populair. Eine Reaktion pgo_285.021
gegen die Trivialität der Wald- und Mondscheinlieder versuchte die politische pgo_285.022
Lyrik.
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Die Ballade. pgo_285.024
Die Ballade ist das epische Lied, ein Lied, in welchem der Ton der pgo_285.025
Stimmung und die sangbare Form vorwaltet, und welches daher das pgo_285.026
Ereigniß ganz in Empfindung auflöst. Nur wenn wir diese pgo_285.027
Begriffsbestimmung in aller Schärfe festhalten, lassen sich die Grenzstreitigkeiten pgo_285.028
zwischen Ballade und Romanze, deren Verwirrung pgo_285.029
durch den schwankenden Gebrauch dieser Ausdrücke von Seiten unserer pgo_285.030
großen Dichter noch vermehrt ist, ein für allemal grundrechtlich reguliren. pgo_285.031
Die Romanze ist dann eine episch-lyrische Mischgattung, eine kleinere pgo_285.032
„poetische Erzählung,“ in welcher das Jnteresse des Kolorits und der pgo_285.033
Schilderung überwiegt und die lyrischen Andeutungen und Sprünge das pgo_285.034
Element der musikalischen Stimmung, die Sangbarkeit und Kürze,
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