pgo_281.001 männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder pgo_281.002 strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen pgo_281.003 Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit pgo_281.004 des Liedes.
pgo_281.005 Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß pgo_281.006 die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende pgo_281.007 Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen pgo_281.008 Volks- und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter pgo_281.009 und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes pgo_281.010 durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker, pgo_281.011 unter ihnen auch Hillebrand in seiner: "Literar-Aesthetik" das Sonettpgo_281.012 als eine Unterart des "Liedes" betrachten konnten. Eher dürfte das pgo_281.013 lyrische Epigramm, das Madrigal, das in kein solches monotones pgo_281.014 Vers- und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem, pgo_281.015 wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes pgo_281.016 Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus pgo_281.017 komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt pgo_281.018 einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben pgo_281.019 näher in's Auge fassen.
pgo_281.020 1. Das Volkslied und Kunstlied.
pgo_281.021 Das Lied als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere pgo_281.022 Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem pgo_281.023 unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe pgo_281.024 sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den pgo_281.025 Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der pgo_281.026 Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des pgo_281.027 Volksliedes, dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft, pgo_281.028 das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht pgo_281.029 nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt pgo_281.030 ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß pgo_281.031 echt lyrisch ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen pgo_281.032 Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß pgo_281.033 des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes, pgo_281.034 Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit
pgo_281.001 männlicher und weiblicher Reime einen etwas beweglicheren und minder pgo_281.002 strengen Charakter erhalten. Vierzeilige Strophen mit einfach verschlungenen pgo_281.003 Reimen entsprechen am meisten der anmuthigen Einfachheit pgo_281.004 des Liedes.
pgo_281.005 Auch widerspricht es nicht dem sangbaren Charakter des Liedes, daß pgo_281.006 die zweite Hälfte der Strophe, besonders der vom Chor zu singende pgo_281.007 Refrain in einem andern Versmaaß gedichtet ist, wie wir dies in vielen pgo_281.008 Volks- und geselligen Liedern finden. Dagegen ist der Pomp oft wiederholter pgo_281.009 und kunstvoll verschlungener Reime mit dem Wesen des Liedes pgo_281.010 durchaus unverträglich. Es ist daher unbegreiflich, wie zahlreiche Aesthetiker, pgo_281.011 unter ihnen auch Hillebrand in seiner: „Literar-Aesthetik“ das Sonettpgo_281.012 als eine Unterart des „Liedes“ betrachten konnten. Eher dürfte das pgo_281.013 lyrische Epigramm, das Madrigal, das in kein solches monotones pgo_281.014 Vers- und Reimschema eingezwängt war, hier eine Stätte finden, indem, pgo_281.015 wie wir schon gesehen, eine frappante lyrische Pointe, ein schalkhaftes pgo_281.016 Austönen im Liede vollkommen berechtigt ist, welches sogar einen durchaus pgo_281.017 komischen Jnhalt in sich aufzunehmen vermag. Wir wollen jetzt pgo_281.018 einige Unterscheidungen des Liedes und geschichtliche Gestalten desselben pgo_281.019 näher in's Auge fassen.
pgo_281.020 1. Das Volkslied und Kunstlied.
pgo_281.021 Das Lied als unmittelbarer Erguß des Herzens setzt keine tiefere pgo_281.022 Bildung voraus; im Gegentheil, sein Quell kann am frischesten in einem pgo_281.023 unbefangenen, mit der Natur noch träumerisch verwachsenen Gemüthe pgo_281.024 sprudeln! Dann erinnert es an den Gesang des Vogels, der auf den pgo_281.025 Zweigen singt. Die Natur und die eigene Empfindung, die Welt der pgo_281.026 Sage, mit welcher der Sänger groß geworden, sind die Quellen des pgo_281.027 Volksliedes, dessen kunstlose Naivetät, wie aromatischer Waldduft, pgo_281.028 das Gemüth gefangen nimmt. Zugleich liegt im Volksliede die Sehnsucht pgo_281.029 nach einem noch unerschlossenen Reiche der Bildung, und das giebt pgo_281.030 ihm einen neuen wehmüthigen Reiz. Was in diesen Volksliedern indeß pgo_281.031 echt lyrisch ist: das sind seine verschleierten Uebergänge, seine sinnigen pgo_281.032 Andeutungen, dies träumerische Herübergehn vom Naturbild zum Ereigniß pgo_281.033 des Herzens. Dadurch erhält auch seine Form etwas Knappes, pgo_281.034 Gedrungenes, Sangbares; der wiederkehrende Refrain hält die Einheit
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1. Das Volkslied und Kunstlied. pgo_281.021
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/303>, abgerufen am 23.11.2024.
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