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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Sein' Augen stehn voll Thränen, pgo_280.002
Der Schaum läuft von den Zähnen, pgo_280.003
Die Mähne steigt empor. pgo_280.004
Er sucht, er ruft, er brüllet, pgo_280.005
Daß Lybien erschüllet, pgo_280.006
Und sich entsetzt davor:
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So rühren sich die Schmerzen pgo_280.008
Jn Deinem Vater-Herzen pgo_280.009
Jngleichen, mein Clandrin!

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Abgesehen von der Geschmacklosigkeit des Bildes, das an dieser pgo_280.011
Stelle ebenso passend ist, wie ein marmorner Löwe als Grabdenkmal pgo_280.012
eines Kindes, zerstört die epische Ausführung, welche die Phantasie bei pgo_280.013
einer Fülle von einzelnen Merkmalen haften läßt und sie von der Leiche pgo_280.014
eines Kindes bis in die lybische Wüste versetzt, vollkommen die Einheit pgo_280.015
der lyrischen Stimmung.

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Was die metrische Form des Liedes betrifft, so waltet auch hier pgo_280.017
der Charakter größter Einfachheit. Kurzathmige Rhythmen von wenig pgo_280.018
Füßen, kurze Strophen, am liebsten vierzeilig, keine kunstvoll verschlungenen, pgo_280.019
aber durch die Kürze der Zeilen rasch sich folgende Reime bestimmen pgo_280.020
ihn. Lieder ohne Reim sind in deutscher Sprache wirklich ungereimt pgo_280.021
zu nennen. Schon Anakreon ließ seine leichtgeflügelten Amoretten pgo_280.022
sich nach dem Takte des jambischen Dimeters bewegen:

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einen kurzathmigen, hastigen Rhythmus, dessen heftigen Anprall er dadurch pgo_280.025
mäßigte, daß er die letzte Länge des ersten Jonikus in eine Kürze, die pgo_280.026
erste Kürze des zweiten in eine Länge verwandelte:

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Durch diese Umbiegung (Anaklase) erhielt der kurze Vers einen pgo_280.029
weicheren Gang, der ihn zum Träger der Liebesempfindung geschickt pgo_280.030
machte. Ueber das Maaß einer trochäischen und jambischen Dipodie:

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sollte das Metrum des Liedes nicht hinausgehn. Jn der That sind die pgo_280.034
meisten Lieder Goethe's, Uhland's, Geibel's, Lenau's, Wilhelm pgo_280.035
Müller's, Eichendorff's, Hoffmann's von Fallersleben
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in diesen Dipodien geschrieben, welche freilich durch den Wechsel

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/302>, abgerufen am 13.05.2024.