Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_008.001 *) pgo_008.030
Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: "die Tragoedie ist an pgo_008.031 der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen pgo_008.032 standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen, pgo_008.033 Todtschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden, Brande, Blutschanden, pgo_008.034 Kriege und Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufftzen und dergleichen handelt." pgo_008.001 *) pgo_008.030
Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: „die Tragoedie ist an pgo_008.031 der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen pgo_008.032 standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen, pgo_008.033 Todtschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden, Brande, Blutschanden, pgo_008.034 Kriege und Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufftzen und dergleichen handelt.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="8"/><lb n="pgo_008.001"/> des wackern Altmeisters auf die poetische Kraft der Muttersprache <lb n="pgo_008.002"/> und darauf, daß unser Land unter keiner „so rauhen und ungeschlachten <lb n="pgo_008.003"/> Luft“ liege, „daß es nicht ebendergleichen zur Poesie tüchtige <foreign xml:lang="lat">ingenia</foreign> <lb n="pgo_008.004"/> könne tragen,“ bildet die eigentliche Glanzseite des Büchleins, das die <lb n="pgo_008.005"/> Lehren von dichterischer Erfindung und Disposition, von der Zubereitung <lb n="pgo_008.006"/> und Zier der Worte, von den Reimen nur flüchtig streift und sich weder <lb n="pgo_008.007"/> durch reichhaltigen Jnhalt, noch durch geschickte Definitionen auszeichnet<note xml:id="PGO_008_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_008.030"/> Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: „die Tragoedie ist an <lb n="pgo_008.031"/> der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen <lb n="pgo_008.032"/> standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen, <lb n="pgo_008.033"/> Todtschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden, Brande, Blutschanden, <lb n="pgo_008.034"/> Kriege und Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufftzen und dergleichen handelt.“</note>. <lb n="pgo_008.008"/> Dennoch war damit für die deutsche Poetik die Bahn gebrochen — <lb n="pgo_008.009"/> und ein Jahrhundert später gab der kritische Leipziger Dictator <hi rendition="#g">Johann <lb n="pgo_008.010"/> Christoph Gottsched</hi> seinen „<hi rendition="#g">Versuch einer kritischen Dichtkunst</hi>“ <lb n="pgo_008.011"/> (1750) heraus, welcher, wie man auch über seine Bedeutung <lb n="pgo_008.012"/> denken mag, doch einen bedeutenden Fortschritt gegen die schüchterne <lb n="pgo_008.013"/> Poeterey des schlesischen Dichters bekundet. Gottsched hat sich mit seinem <lb n="pgo_008.014"/> kalten und klaren ostpreußischen Verstande unleugbare Verdienste um die <lb n="pgo_008.015"/> deutsche Poesie erworben, wenn ihm auch das Organ für die freieren <lb n="pgo_008.016"/> dichterischen Schönheiten fehlte und er zu sehr der oft farblosen Correctheit <lb n="pgo_008.017"/> der französischen Muster nachstrebte. Sein Kampf gegen den <lb n="pgo_008.018"/> Schwulst und die Uebertreibungen der zweiten Schlesischen Dichterschule, <lb n="pgo_008.019"/> selbst seine Verbannung des Hanswurst's von der deutschen Bühne, <lb n="pgo_008.020"/> welcher seine stereotypen Unfläthereien weder zur Zierde noch zum Heile <lb n="pgo_008.021"/> gereichen konnten, sind noch immer nicht nach Gebühr gewürdigt, weil die <lb n="pgo_008.022"/> nachstrebende jüngere Generation in ihrem siegreichen Kampfe gegen die <lb n="pgo_008.023"/> Steifheit der Gottsched'schen Poetik die Sympathieen der Gegenwart für <lb n="pgo_008.024"/> sich hat. Gerade diese Poetik ist wohl das beste Werk des Leipziger <lb n="pgo_008.025"/> Kritikers. Uebersichtlich und faßlich geordnet, ansprechend stylisirt, klar, <lb n="pgo_008.026"/> wenn auch oberflächlich in den Begriffsbestimmungen, überall Zeugniß <lb n="pgo_008.027"/> ablegend für die Belesenheit des Autors in der klassischen, französischen <lb n="pgo_008.028"/> und neuern deutschen Literatur, nimmt die Poetik <hi rendition="#g">Gottsched's</hi> eine <lb n="pgo_008.029"/> Stellung in der letzteren ein, welche in dieser Weise, dem Fortschritte der </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0030]
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des wackern Altmeisters auf die poetische Kraft der Muttersprache pgo_008.002
und darauf, daß unser Land unter keiner „so rauhen und ungeschlachten pgo_008.003
Luft“ liege, „daß es nicht ebendergleichen zur Poesie tüchtige ingenia pgo_008.004
könne tragen,“ bildet die eigentliche Glanzseite des Büchleins, das die pgo_008.005
Lehren von dichterischer Erfindung und Disposition, von der Zubereitung pgo_008.006
und Zier der Worte, von den Reimen nur flüchtig streift und sich weder pgo_008.007
durch reichhaltigen Jnhalt, noch durch geschickte Definitionen auszeichnet *). pgo_008.008
Dennoch war damit für die deutsche Poetik die Bahn gebrochen — pgo_008.009
und ein Jahrhundert später gab der kritische Leipziger Dictator Johann pgo_008.010
Christoph Gottsched seinen „Versuch einer kritischen Dichtkunst“ pgo_008.011
(1750) heraus, welcher, wie man auch über seine Bedeutung pgo_008.012
denken mag, doch einen bedeutenden Fortschritt gegen die schüchterne pgo_008.013
Poeterey des schlesischen Dichters bekundet. Gottsched hat sich mit seinem pgo_008.014
kalten und klaren ostpreußischen Verstande unleugbare Verdienste um die pgo_008.015
deutsche Poesie erworben, wenn ihm auch das Organ für die freieren pgo_008.016
dichterischen Schönheiten fehlte und er zu sehr der oft farblosen Correctheit pgo_008.017
der französischen Muster nachstrebte. Sein Kampf gegen den pgo_008.018
Schwulst und die Uebertreibungen der zweiten Schlesischen Dichterschule, pgo_008.019
selbst seine Verbannung des Hanswurst's von der deutschen Bühne, pgo_008.020
welcher seine stereotypen Unfläthereien weder zur Zierde noch zum Heile pgo_008.021
gereichen konnten, sind noch immer nicht nach Gebühr gewürdigt, weil die pgo_008.022
nachstrebende jüngere Generation in ihrem siegreichen Kampfe gegen die pgo_008.023
Steifheit der Gottsched'schen Poetik die Sympathieen der Gegenwart für pgo_008.024
sich hat. Gerade diese Poetik ist wohl das beste Werk des Leipziger pgo_008.025
Kritikers. Uebersichtlich und faßlich geordnet, ansprechend stylisirt, klar, pgo_008.026
wenn auch oberflächlich in den Begriffsbestimmungen, überall Zeugniß pgo_008.027
ablegend für die Belesenheit des Autors in der klassischen, französischen pgo_008.028
und neuern deutschen Literatur, nimmt die Poetik Gottsched's eine pgo_008.029
Stellung in der letzteren ein, welche in dieser Weise, dem Fortschritte der
*) pgo_008.030
Man vergleiche z. B. die Definition der Tragödie, p. 36: „die Tragoedie ist an pgo_008.031
der majestet dem Heroischen getichte gemesse ohne das sie selten leidet das man geringen pgo_008.032
standespersonen und schlechte Sachen einführe: weil sie nur von Königlichem Willen, pgo_008.033
Todtschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden, Brande, Blutschanden, pgo_008.034
Kriege und Aufruhr, Klagen, Heulen, Seufftzen und dergleichen handelt.“
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