pgo_275.001 vor Allem aber ist Wein und Liebe sein unerschöpfliches Thema. pgo_275.002 Ein Lyriker, der kein Trink- oder Liebeslied gedichtet, gehörte in ein Kuriositätenkabinet. pgo_275.003 Selbst der idealgesinnte Schiller hat drei Mal seine Lyra pgo_275.004 zum Preis des edeln Getränkes gestimmt, freilich charakteristisch genug, pgo_275.005 einmal in einer antikisirenden Dithyrambe, in welcher nur göttlicher pgo_275.006 Nektar herumgereicht wird, und zwei Mal zum Preise "des Punsches," pgo_275.007 indem er dem künstlich bereiteten Getränke den Vorzug vor den natürlichen pgo_275.008 Gaben des Bacchus zu geben scheint, weil sich in ihm "der Willen pgo_275.009 und die Kraft" des Menschen offenbart. Dagegen hat Goethe die gehobene pgo_275.010 Stimmung des Trinkenden meisterhaft ausgedrückt: "Mich ergreift pgo_275.011 ich weiß nicht wie wonniges Behagen." Dem Liebenden wird jeder Lichtreflex, pgo_275.012 jeder vorüberfliehende Schatten der Natur, jedes kleinste Ereigniß pgo_275.013 des Lebens von Bedeutung für seine Stimmung. Der Hauch der pgo_275.014 Liebe verstreut daher überallhin den Samen, aus welchem die Blumen pgo_275.015 des Liedes wachsen. Auch die Empfindung hat ihren Witz in sinnigen pgo_275.016 Vergleichen, innigem oder schalkhaftem Deuten. Dieser Witz der Empfindung pgo_275.017 ist ein reicher Quell für das Liebeslied von Anakreon und Hafispgo_275.018 bis zu Schefer, Wilhelm Müller und Heine, ganz abgesehen pgo_275.019 von jenen aus der Liederpoesie herausfallenden Reflexionen, die sich in pgo_275.020 Petrarca's verschnörkelten Sonetten finden. Doch auch alle andern pgo_275.021 Empfindungen kommen im Liede zur Geltung. Wir erinnern nur an pgo_275.022 den köstlichen Ausdruck des Naturgefühls, des elementarischen Lebens in pgo_275.023 Goethe's "Fischer" und Mörike's "mein Fluß," der Sehnsucht im Mignonlied pgo_275.024 "Kennst du das Land," in Brentano's "Nach Sevilla, nach Sevilla," pgo_275.025 in Eichendorff's "Mondnacht," der Wehmuth in Lenau's "Schilfliedern" pgo_275.026 und in Kinkel's "Trost der Nacht." Jedes Naturbild erweckt pgo_275.027 eine Stimmung oder spiegelt eine Empfindung, die im Liede ihren Ausdruck pgo_275.028 finden kann. Dagegen mag es fraglich erscheinen, ob das Liedpgo_275.029 auch fähig sei, einen Jnhalt aus dem Kreise der Religion und Politik in pgo_275.030 sich aufzunehmen, ohne daß seine Form gesprengt wird. Jn der That pgo_275.031 gehört die dichterisch gestaltete Jdee in das Gebiet der Ode und Elegie.pgo_275.032 Anders verhält es sich mit der religiösen und politischen Stimmung.pgo_275.033 Die Gottergebenheit, die Rührung durch die Güte des Allmächtigen pgo_275.034 und ähnliche Empfindungen der Andacht haben im geistlichen pgo_275.035 Lied eine angemessene Form gefunden, während sowohl die patriotische
pgo_275.001 vor Allem aber ist Wein und Liebe sein unerschöpfliches Thema. pgo_275.002 Ein Lyriker, der kein Trink- oder Liebeslied gedichtet, gehörte in ein Kuriositätenkabinet. pgo_275.003 Selbst der idealgesinnte Schiller hat drei Mal seine Lyra pgo_275.004 zum Preis des edeln Getränkes gestimmt, freilich charakteristisch genug, pgo_275.005 einmal in einer antikisirenden Dithyrambe, in welcher nur göttlicher pgo_275.006 Nektar herumgereicht wird, und zwei Mal zum Preise „des Punsches,“ pgo_275.007 indem er dem künstlich bereiteten Getränke den Vorzug vor den natürlichen pgo_275.008 Gaben des Bacchus zu geben scheint, weil sich in ihm „der Willen pgo_275.009 und die Kraft“ des Menschen offenbart. Dagegen hat Goethe die gehobene pgo_275.010 Stimmung des Trinkenden meisterhaft ausgedrückt: „Mich ergreift pgo_275.011 ich weiß nicht wie wonniges Behagen.“ Dem Liebenden wird jeder Lichtreflex, pgo_275.012 jeder vorüberfliehende Schatten der Natur, jedes kleinste Ereigniß pgo_275.013 des Lebens von Bedeutung für seine Stimmung. Der Hauch der pgo_275.014 Liebe verstreut daher überallhin den Samen, aus welchem die Blumen pgo_275.015 des Liedes wachsen. Auch die Empfindung hat ihren Witz in sinnigen pgo_275.016 Vergleichen, innigem oder schalkhaftem Deuten. Dieser Witz der Empfindung pgo_275.017 ist ein reicher Quell für das Liebeslied von Anakreon und Hafispgo_275.018 bis zu Schefer, Wilhelm Müller und Heine, ganz abgesehen pgo_275.019 von jenen aus der Liederpoesie herausfallenden Reflexionen, die sich in pgo_275.020 Petrarca's verschnörkelten Sonetten finden. Doch auch alle andern pgo_275.021 Empfindungen kommen im Liede zur Geltung. Wir erinnern nur an pgo_275.022 den köstlichen Ausdruck des Naturgefühls, des elementarischen Lebens in pgo_275.023 Goethe's „Fischer“ und Mörike's „mein Fluß,“ der Sehnsucht im Mignonlied pgo_275.024 „Kennst du das Land,“ in Brentano's „Nach Sevilla, nach Sevilla,“ pgo_275.025 in Eichendorff's „Mondnacht,“ der Wehmuth in Lenau's „Schilfliedern“ pgo_275.026 und in Kinkel's „Trost der Nacht.“ Jedes Naturbild erweckt pgo_275.027 eine Stimmung oder spiegelt eine Empfindung, die im Liede ihren Ausdruck pgo_275.028 finden kann. Dagegen mag es fraglich erscheinen, ob das Liedpgo_275.029 auch fähig sei, einen Jnhalt aus dem Kreise der Religion und Politik in pgo_275.030 sich aufzunehmen, ohne daß seine Form gesprengt wird. Jn der That pgo_275.031 gehört die dichterisch gestaltete Jdee in das Gebiet der Ode und Elegie.pgo_275.032 Anders verhält es sich mit der religiösen und politischen Stimmung.pgo_275.033 Die Gottergebenheit, die Rührung durch die Güte des Allmächtigen pgo_275.034 und ähnliche Empfindungen der Andacht haben im geistlichen pgo_275.035 Lied eine angemessene Form gefunden, während sowohl die patriotische
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/297>, abgerufen am 22.11.2024.
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