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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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vor Allem aber ist Wein und Liebe sein unerschöpfliches Thema. pgo_275.002
Ein Lyriker, der kein Trink- oder Liebeslied gedichtet, gehörte in ein Kuriositätenkabinet. pgo_275.003
Selbst der idealgesinnte Schiller hat drei Mal seine Lyra pgo_275.004
zum Preis des edeln Getränkes gestimmt, freilich charakteristisch genug, pgo_275.005
einmal in einer antikisirenden Dithyrambe, in welcher nur göttlicher pgo_275.006
Nektar herumgereicht wird, und zwei Mal zum Preise "des Punsches," pgo_275.007
indem er dem künstlich bereiteten Getränke den Vorzug vor den natürlichen pgo_275.008
Gaben des Bacchus zu geben scheint, weil sich in ihm "der Willen pgo_275.009
und die Kraft" des Menschen offenbart. Dagegen hat Goethe die gehobene pgo_275.010
Stimmung des Trinkenden meisterhaft ausgedrückt: "Mich ergreift pgo_275.011
ich weiß nicht wie wonniges Behagen." Dem Liebenden wird jeder Lichtreflex, pgo_275.012
jeder vorüberfliehende Schatten der Natur, jedes kleinste Ereigniß pgo_275.013
des Lebens von Bedeutung für seine Stimmung. Der Hauch der pgo_275.014
Liebe verstreut daher überallhin den Samen, aus welchem die Blumen pgo_275.015
des Liedes wachsen. Auch die Empfindung hat ihren Witz in sinnigen pgo_275.016
Vergleichen, innigem oder schalkhaftem Deuten. Dieser Witz der Empfindung pgo_275.017
ist ein reicher Quell für das Liebeslied von Anakreon und Hafis pgo_275.018
bis zu Schefer, Wilhelm Müller und Heine, ganz abgesehen pgo_275.019
von jenen aus der Liederpoesie herausfallenden Reflexionen, die sich in pgo_275.020
Petrarca's verschnörkelten Sonetten finden. Doch auch alle andern pgo_275.021
Empfindungen kommen im Liede zur Geltung. Wir erinnern nur an pgo_275.022
den köstlichen Ausdruck des Naturgefühls, des elementarischen Lebens in pgo_275.023
Goethe's "Fischer" und Mörike's "mein Fluß," der Sehnsucht im Mignonlied pgo_275.024
"Kennst du das Land," in Brentano's "Nach Sevilla, nach Sevilla," pgo_275.025
in Eichendorff's "Mondnacht," der Wehmuth in Lenau's "Schilfliedern" pgo_275.026
und in Kinkel's "Trost der Nacht." Jedes Naturbild erweckt pgo_275.027
eine Stimmung oder spiegelt eine Empfindung, die im Liede ihren Ausdruck pgo_275.028
finden kann. Dagegen mag es fraglich erscheinen, ob das Lied pgo_275.029
auch fähig sei, einen Jnhalt aus dem Kreise der Religion und Politik in pgo_275.030
sich aufzunehmen, ohne daß seine Form gesprengt wird. Jn der That pgo_275.031
gehört die dichterisch gestaltete Jdee in das Gebiet der Ode und Elegie. pgo_275.032
Anders verhält es sich mit der religiösen und politischen Stimmung. pgo_275.033
Die Gottergebenheit, die Rührung durch die Güte des Allmächtigen pgo_275.034
und ähnliche Empfindungen der Andacht haben im geistlichen pgo_275.035
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eine angemessene Form gefunden, während sowohl die patriotische

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/297>, abgerufen am 22.11.2024.