Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_276.001
Begeisterung, als auch die unruhige, gährende, thatendurstige Stimmung pgo_276.002
der Gemüther in französische Chansons und deutsche Lieder mustergültig pgo_276.003
ausströmten.

pgo_276.004
Jn der Form muß das Lied "aus einem Gusse" sein und dabei keine pgo_276.005
Blasen der Reflexion werfen. Kürze gehört zu seinen Vorzügen. Wir pgo_276.006
haben Lieder von zwei kleinen Strophen, in denen sich eine Stimmung pgo_276.007
klar, voll, ergreifend ausspricht, z. B. das Abendständchen von Brentano:

pgo_276.008
Hör', es klagt die Flöte wieder pgo_276.009
Und die kühlen Brunnen rauschen, pgo_276.010
Golden wehn die Töne nieder -- pgo_276.011
Stille, stille, laß uns lauschen!
pgo_276.012
Holdes Bitten, mild' Verlangen, pgo_276.013
Wie es süß zum Herzen spricht! pgo_276.014
Durch die Nacht, die mich umfangen, pgo_276.015
Blickt zu mir der Töne Licht.

pgo_276.016
oder "die Bitte" von Lenau:

pgo_276.017
Weil' auf mir, du dunkles Auge, pgo_276.018
Uebe deine ganze Macht, pgo_276.019
Ernste, milde, träumerische, pgo_276.020
Unergründlich süße Nacht.
pgo_276.021
Nimm mit deinem Zauberdunkel pgo_276.022
Diese Welt von hinnen mir, pgo_276.023
Daß du über meinem Leben pgo_276.024
Einsam schwebest für und für.

pgo_276.025
oder vom Verfasser:

pgo_276.026
Versunk'ner Glocken Klang pgo_276.027
Ertönt aus Meerestiefen; pgo_276.028
Mir ist, als ob mich bang pgo_276.029
Viel tausend Stimmen riefen.
pgo_276.030
O endlos Menschenweh, pgo_276.031
Wo flieh' ich deine Kunde? pgo_276.032
So tief ist nicht die See, pgo_276.033
Du rufst von ihrem Grunde.

pgo_276.034
Jn diesen Gedichtchen liegt der Rhythmus der Komposition klar zu pgo_276.035
Tage. Den Anfang bildet die Anregung durch das Ständchen, die Nacht, pgo_276.036
das Meer; die Mitte schildert den Eindruck auf das Gemüth; der Schluß

pgo_276.001
Begeisterung, als auch die unruhige, gährende, thatendurstige Stimmung pgo_276.002
der Gemüther in französische Chansons und deutsche Lieder mustergültig pgo_276.003
ausströmten.

pgo_276.004
Jn der Form muß das Lied „aus einem Gusse“ sein und dabei keine pgo_276.005
Blasen der Reflexion werfen. Kürze gehört zu seinen Vorzügen. Wir pgo_276.006
haben Lieder von zwei kleinen Strophen, in denen sich eine Stimmung pgo_276.007
klar, voll, ergreifend ausspricht, z. B. das Abendständchen von Brentano:

pgo_276.008
Hör', es klagt die Flöte wieder pgo_276.009
Und die kühlen Brunnen rauschen, pgo_276.010
Golden wehn die Töne nieder — pgo_276.011
Stille, stille, laß uns lauschen!
pgo_276.012
Holdes Bitten, mild' Verlangen, pgo_276.013
Wie es süß zum Herzen spricht! pgo_276.014
Durch die Nacht, die mich umfangen, pgo_276.015
Blickt zu mir der Töne Licht.

pgo_276.016
oder „die Bitte“ von Lenau:

pgo_276.017
Weil' auf mir, du dunkles Auge, pgo_276.018
Uebe deine ganze Macht, pgo_276.019
Ernste, milde, träumerische, pgo_276.020
Unergründlich süße Nacht.
pgo_276.021
Nimm mit deinem Zauberdunkel pgo_276.022
Diese Welt von hinnen mir, pgo_276.023
Daß du über meinem Leben pgo_276.024
Einsam schwebest für und für.

pgo_276.025
oder vom Verfasser:

pgo_276.026
Versunk'ner Glocken Klang pgo_276.027
Ertönt aus Meerestiefen; pgo_276.028
Mir ist, als ob mich bang pgo_276.029
Viel tausend Stimmen riefen.
pgo_276.030
O endlos Menschenweh, pgo_276.031
Wo flieh' ich deine Kunde? pgo_276.032
So tief ist nicht die See, pgo_276.033
Du rufst von ihrem Grunde.

pgo_276.034
Jn diesen Gedichtchen liegt der Rhythmus der Komposition klar zu pgo_276.035
Tage. Den Anfang bildet die Anregung durch das Ständchen, die Nacht, pgo_276.036
das Meer; die Mitte schildert den Eindruck auf das Gemüth; der Schluß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0298" n="276"/><lb n="pgo_276.001"/>
Begeisterung, als auch die unruhige, gährende, thatendurstige Stimmung <lb n="pgo_276.002"/>
der Gemüther in französische Chansons und deutsche Lieder mustergültig <lb n="pgo_276.003"/>
ausströmten.</p>
              <p><lb n="pgo_276.004"/>
Jn der Form muß das Lied &#x201E;aus einem Gusse&#x201C; sein und dabei keine <lb n="pgo_276.005"/>
Blasen der Reflexion werfen. Kürze gehört zu seinen Vorzügen. Wir <lb n="pgo_276.006"/>
haben Lieder von zwei kleinen Strophen, in denen sich eine Stimmung <lb n="pgo_276.007"/>
klar, voll, ergreifend ausspricht, z. B. das Abendständchen von Brentano:</p>
              <lb n="pgo_276.008"/>
              <lg>
                <l>Hör', es klagt die Flöte wieder</l>
                <lb n="pgo_276.009"/>
                <l>Und die kühlen Brunnen rauschen,</l>
                <lb n="pgo_276.010"/>
                <l>Golden wehn die Töne nieder &#x2014;</l>
                <lb n="pgo_276.011"/>
                <l>Stille, stille, laß uns lauschen! </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="pgo_276.012"/>
                <l>Holdes Bitten, mild' Verlangen,</l>
                <lb n="pgo_276.013"/>
                <l>Wie es süß zum Herzen spricht!</l>
                <lb n="pgo_276.014"/>
                <l>Durch die Nacht, die mich umfangen,</l>
                <lb n="pgo_276.015"/>
                <l>Blickt zu mir der Töne Licht.</l>
              </lg>
              <p><lb n="pgo_276.016"/>
oder &#x201E;die Bitte&#x201C; von Lenau:</p>
              <lb n="pgo_276.017"/>
              <lg>
                <l>Weil' auf mir, du dunkles Auge,</l>
                <lb n="pgo_276.018"/>
                <l>Uebe deine ganze Macht,</l>
                <lb n="pgo_276.019"/>
                <l>Ernste, milde, träumerische,</l>
                <lb n="pgo_276.020"/>
                <l>Unergründlich süße Nacht. </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="pgo_276.021"/>
                <l>Nimm mit deinem Zauberdunkel</l>
                <lb n="pgo_276.022"/>
                <l>Diese Welt von hinnen mir,</l>
                <lb n="pgo_276.023"/>
                <l>Daß du über meinem Leben</l>
                <lb n="pgo_276.024"/>
                <l>Einsam schwebest für und für.</l>
              </lg>
              <p><lb n="pgo_276.025"/>
oder vom Verfasser:</p>
              <lb n="pgo_276.026"/>
              <lg>
                <l>Versunk'ner Glocken Klang</l>
                <lb n="pgo_276.027"/>
                <l>Ertönt aus Meerestiefen;</l>
                <lb n="pgo_276.028"/>
                <l>Mir ist, als ob mich bang</l>
                <lb n="pgo_276.029"/>
                <l>Viel tausend Stimmen riefen. </l>
              </lg>
              <lg>
                <lb n="pgo_276.030"/>
                <l>O endlos Menschenweh,</l>
                <lb n="pgo_276.031"/>
                <l>Wo flieh' ich deine Kunde?</l>
                <lb n="pgo_276.032"/>
                <l>So tief ist nicht die See,</l>
                <lb n="pgo_276.033"/>
                <l>Du rufst von ihrem Grunde.</l>
              </lg>
              <p><lb n="pgo_276.034"/>
Jn diesen Gedichtchen liegt der Rhythmus der Komposition klar zu <lb n="pgo_276.035"/>
Tage. Den Anfang bildet die Anregung durch das Ständchen, die Nacht, <lb n="pgo_276.036"/>
das Meer; die Mitte schildert den Eindruck auf das Gemüth; der Schluß
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0298] pgo_276.001 Begeisterung, als auch die unruhige, gährende, thatendurstige Stimmung pgo_276.002 der Gemüther in französische Chansons und deutsche Lieder mustergültig pgo_276.003 ausströmten. pgo_276.004 Jn der Form muß das Lied „aus einem Gusse“ sein und dabei keine pgo_276.005 Blasen der Reflexion werfen. Kürze gehört zu seinen Vorzügen. Wir pgo_276.006 haben Lieder von zwei kleinen Strophen, in denen sich eine Stimmung pgo_276.007 klar, voll, ergreifend ausspricht, z. B. das Abendständchen von Brentano: pgo_276.008 Hör', es klagt die Flöte wieder pgo_276.009 Und die kühlen Brunnen rauschen, pgo_276.010 Golden wehn die Töne nieder — pgo_276.011 Stille, stille, laß uns lauschen! pgo_276.012 Holdes Bitten, mild' Verlangen, pgo_276.013 Wie es süß zum Herzen spricht! pgo_276.014 Durch die Nacht, die mich umfangen, pgo_276.015 Blickt zu mir der Töne Licht. pgo_276.016 oder „die Bitte“ von Lenau: pgo_276.017 Weil' auf mir, du dunkles Auge, pgo_276.018 Uebe deine ganze Macht, pgo_276.019 Ernste, milde, träumerische, pgo_276.020 Unergründlich süße Nacht. pgo_276.021 Nimm mit deinem Zauberdunkel pgo_276.022 Diese Welt von hinnen mir, pgo_276.023 Daß du über meinem Leben pgo_276.024 Einsam schwebest für und für. pgo_276.025 oder vom Verfasser: pgo_276.026 Versunk'ner Glocken Klang pgo_276.027 Ertönt aus Meerestiefen; pgo_276.028 Mir ist, als ob mich bang pgo_276.029 Viel tausend Stimmen riefen. pgo_276.030 O endlos Menschenweh, pgo_276.031 Wo flieh' ich deine Kunde? pgo_276.032 So tief ist nicht die See, pgo_276.033 Du rufst von ihrem Grunde. pgo_276.034 Jn diesen Gedichtchen liegt der Rhythmus der Komposition klar zu pgo_276.035 Tage. Den Anfang bildet die Anregung durch das Ständchen, die Nacht, pgo_276.036 das Meer; die Mitte schildert den Eindruck auf das Gemüth; der Schluß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/298
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/298>, abgerufen am 26.11.2024.