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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Für alle ansingenden Formen der Lyrik wird sich dieser Eingang als pgo_260.002
unentbehrlich erweisen. Auch kann der Anfang bereits im Keime den pgo_260.003
ganzen Jnhalt des Gedichtes enthalten, das nur in einer Evolution der pgo_260.004
bereits ganz enthüllten Stimmung besteht, wie Lenau's "nächtige pgo_260.005
Wanderung:
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Die Nacht ist finster, schwül und bang, pgo_260.007
Der Wind im Walde tost; pgo_260.008
Jch wandre fort die Nacht entlang pgo_260.009
Und finde keinen Trost.

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oder Meißner's "Einsamkeit:"

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Daß ich dein auf ewig bliebe, pgo_260.012
Tiefes, felsumschloss'nes Thal, pgo_260.013
Traurig schön wie uns'rer Liebe pgo_260.014
Tiefe hoffnungsvolle Qual.

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Aehnlich "Schiller" in "den Göttern Griechenlands," wo der Dichter pgo_260.016
in der ersten Strophe bereits den ganzen Jnhalt des Gedichtes angiebt. pgo_260.017
Es ist indeß nicht empfehlenswerth, alle Trümpfe der Empfindung am pgo_260.018
Anfang auszuspielen; ihr allmähliches Anschwellen und Durchbrechen pgo_260.019
ist künstlerischer. Die Entfaltung des Gedichtes bildet nun seine pgo_260.020
Mitte; hier ist der Empfindung und Phantasie der weiteste Spielraum pgo_260.021
gegeben. Sie kann in innig koncentrirten Klängen fast unausgeprägt pgo_260.022
vom Anfang zum Schlusse hinüberleiten, sie kann von Bild zu Bild, von pgo_260.023
Vorstellung zu Vorstellung in kühnen Sprüngen eilen oder ein Gewebe pgo_260.024
von Bildern und Reflexionen ausbreiten, in welchen der rothe durchgehende pgo_260.025
Faden sichtbar ist, der Anfang und Schluß verknüpft. Sie kann pgo_260.026
im Refrain immer wieder den Grundton der Stimmung wiederholen, pgo_260.027
in dem wiederkehrenden Verse gleichsam äußerlich, plastisch die innere pgo_260.028
Einheit
des Gedichtes andeuten. Solche Wiederholungen finden sich pgo_260.029
besonders im "Volksliede," welches noch ein äußerliches Hilfsmittel pgo_260.030
braucht, um nicht über den Kreis der Empfindung, den es beschreiben pgo_260.031
will, hinauszufliegen. Der Refrain kann in der Wiederholung derselben pgo_260.032
Worte bestehn, oder nur dieselbe Figuration des Verses und der pgo_260.033
Wortstellung wiederholen, sonst aber der veränderten Situation durch den pgo_260.034
veränderten Ausdruck Rechnung tragen.

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Der Schluß des lyrischen Gedichtes soll nicht blos ein harmonisches pgo_260.036
Austönen der Stimmung sein; er soll sie noch einmal prägnant zusammenfassen;

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unentbehrlich erweisen. Auch kann der Anfang bereits im Keime den pgo_260.003
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/282>, abgerufen am 11.05.2024.