Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_259.001 Herz, mein Herz, was soll es geben? pgo_259.014 Was bedränget dich so sehr? pgo_259.015 Welch' ein reges, neues Leben, pgo_259.016 Jch erkenne dich nicht mehr. pgo_259.017 An der duftverlornen Grenze pgo_259.023 Jener Berge tanzen hold pgo_259.024 Abendwolken ihre Tänze, pgo_259.025 Leichtgeschürzt im Strahlengold. pgo_259.026 Hör' ich das Pförtchen nicht gehen? pgo_259.028 Hat nicht der Riegel geklirrt? pgo_259.029 Nein, es ist des Windes Wehen, pgo_259.030 Der durch diese Pappeln schwirrt. pgo_259.031 So willst du ewig von mir scheiden pgo_259.035
Mit deinen holden Phantasie'n, pgo_259.036 Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden, pgo_259.037 Mit Allem unerbittlich fliehn? pgo_259.001 Herz, mein Herz, was soll es geben? pgo_259.014 Was bedränget dich so sehr? pgo_259.015 Welch' ein reges, neues Leben, pgo_259.016 Jch erkenne dich nicht mehr. pgo_259.017 An der duftverlornen Grenze pgo_259.023 Jener Berge tanzen hold pgo_259.024 Abendwolken ihre Tänze, pgo_259.025 Leichtgeschürzt im Strahlengold. pgo_259.026 Hör' ich das Pförtchen nicht gehen? pgo_259.028 Hat nicht der Riegel geklirrt? pgo_259.029 Nein, es ist des Windes Wehen, pgo_259.030 Der durch diese Pappeln schwirrt. pgo_259.031 So willst du ewig von mir scheiden pgo_259.035
Mit deinen holden Phantasie'n, pgo_259.036 Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden, pgo_259.037 Mit Allem unerbittlich fliehn? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0281" n="259"/> <p><lb n="pgo_259.001"/> Die <hi rendition="#g">Entfaltung</hi> der lyrischen Komposition ist nach den Gattungen <lb n="pgo_259.002"/> wesentlich verschieden. Es giebt Lieder, die wie unerschlossene Knospen <lb n="pgo_259.003"/> sind, deren Duft und Reiz gerade in der halbverhüllten, ahnungsvoll <lb n="pgo_259.004"/> durchbrechenden Seele, im Mangel der Entfaltung besteht, wogegen <lb n="pgo_259.005"/> andere wieder weitreichende Ketten von Vorstellungen und Empfindungen <lb n="pgo_259.006"/> bilden. Der Lyriker muß uns noch mehr als der Epiker gleich am <hi rendition="#g">Anfang <lb n="pgo_259.007"/> <foreign xml:lang="lat">in medias res</foreign></hi> führen; den Mittelpunkt der Empfindung darf <lb n="pgo_259.008"/> er nie verlassen. Wenn Pindar in der erwähnten Ode mit der die <lb n="pgo_259.009"/> Olympier beseligenden Musik beginnt, so sind wir vollkommen im Mittelpunkte <lb n="pgo_259.010"/> des Gedichtes, denn dort ist der vollste, göttliche Akkord der Harmonie, <lb n="pgo_259.011"/> den er feiert. Der Lyriker kann entweder gleich am Anfang die <lb n="pgo_259.012"/> Stimmung aussprechen, die ihn beseelt, wie Goethe:</p> <lb n="pgo_259.013"/> <lg> <l>Herz, mein Herz, was soll es geben?</l> <lb n="pgo_259.014"/> <l>Was bedränget dich so sehr?</l> <lb n="pgo_259.015"/> <l>Welch' ein reges, neues Leben,</l> <lb n="pgo_259.016"/> <l>Jch erkenne dich nicht mehr.</l> </lg> <p><lb n="pgo_259.017"/> oder er verschleiert diese Stimmung zunächst in der Schilderung eines <lb n="pgo_259.018"/> Naturbildes, das sie spiegelt, einer Situation, an die er anknüpft; doch <lb n="pgo_259.019"/> muß er in Ton und Färbung des Gemäldes bereits die Färbung des <lb n="pgo_259.020"/> Gemüthes durchschimmern lassen. Die Sehnsucht des Dichters malt sich <lb n="pgo_259.021"/> trefflich in Lenau's Gedicht: „meine Braut“ in der ersten Strophe:</p> <lb n="pgo_259.022"/> <lg> <l>An der duftverlornen Grenze</l> <lb n="pgo_259.023"/> <l>Jener Berge tanzen hold</l> <lb n="pgo_259.024"/> <l>Abendwolken ihre Tänze,</l> <lb n="pgo_259.025"/> <l>Leichtgeschürzt im Strahlengold.</l> </lg> <p><lb n="pgo_259.026"/> ebenso die Unruhe und Spannung des Gemüths in Schiller's <hi rendition="#g">Erwartung:</hi></p> <lb n="pgo_259.027"/> <lg> <l>Hör' ich das Pförtchen nicht gehen?</l> <lb n="pgo_259.028"/> <l>Hat nicht der Riegel geklirrt?</l> <lb n="pgo_259.029"/> <l>Nein, es ist des Windes Wehen,</l> <lb n="pgo_259.030"/> <l>Der durch diese Pappeln schwirrt.</l> </lg> <p><lb n="pgo_259.031"/> Ebenso kann der Anfang in einer Anrede bestehn, welche uns den <lb n="pgo_259.032"/> besungenen Gegenstand lebensvoll näher rückt, wie z. B. <hi rendition="#g">Schiller</hi> in <lb n="pgo_259.033"/> den „Jdealen“ die gold'ne Zeit seines Lebens anruft:</p> <lb n="pgo_259.034"/> <lg> <l>So willst du ewig von mir scheiden</l> <lb n="pgo_259.035"/> <l>Mit deinen holden Phantasie'n,</l> <lb n="pgo_259.036"/> <l>Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden,</l> <lb n="pgo_259.037"/> <l>Mit Allem unerbittlich fliehn?</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [259/0281]
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Die Entfaltung der lyrischen Komposition ist nach den Gattungen pgo_259.002
wesentlich verschieden. Es giebt Lieder, die wie unerschlossene Knospen pgo_259.003
sind, deren Duft und Reiz gerade in der halbverhüllten, ahnungsvoll pgo_259.004
durchbrechenden Seele, im Mangel der Entfaltung besteht, wogegen pgo_259.005
andere wieder weitreichende Ketten von Vorstellungen und Empfindungen pgo_259.006
bilden. Der Lyriker muß uns noch mehr als der Epiker gleich am Anfang pgo_259.007
in medias res führen; den Mittelpunkt der Empfindung darf pgo_259.008
er nie verlassen. Wenn Pindar in der erwähnten Ode mit der die pgo_259.009
Olympier beseligenden Musik beginnt, so sind wir vollkommen im Mittelpunkte pgo_259.010
des Gedichtes, denn dort ist der vollste, göttliche Akkord der Harmonie, pgo_259.011
den er feiert. Der Lyriker kann entweder gleich am Anfang die pgo_259.012
Stimmung aussprechen, die ihn beseelt, wie Goethe:
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Herz, mein Herz, was soll es geben? pgo_259.014
Was bedränget dich so sehr? pgo_259.015
Welch' ein reges, neues Leben, pgo_259.016
Jch erkenne dich nicht mehr.
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oder er verschleiert diese Stimmung zunächst in der Schilderung eines pgo_259.018
Naturbildes, das sie spiegelt, einer Situation, an die er anknüpft; doch pgo_259.019
muß er in Ton und Färbung des Gemäldes bereits die Färbung des pgo_259.020
Gemüthes durchschimmern lassen. Die Sehnsucht des Dichters malt sich pgo_259.021
trefflich in Lenau's Gedicht: „meine Braut“ in der ersten Strophe:
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An der duftverlornen Grenze pgo_259.023
Jener Berge tanzen hold pgo_259.024
Abendwolken ihre Tänze, pgo_259.025
Leichtgeschürzt im Strahlengold.
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ebenso die Unruhe und Spannung des Gemüths in Schiller's Erwartung:
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Hör' ich das Pförtchen nicht gehen? pgo_259.028
Hat nicht der Riegel geklirrt? pgo_259.029
Nein, es ist des Windes Wehen, pgo_259.030
Der durch diese Pappeln schwirrt.
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Ebenso kann der Anfang in einer Anrede bestehn, welche uns den pgo_259.032
besungenen Gegenstand lebensvoll näher rückt, wie z. B. Schiller in pgo_259.033
den „Jdealen“ die gold'ne Zeit seines Lebens anruft:
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So willst du ewig von mir scheiden pgo_259.035
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Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden, pgo_259.037
Mit Allem unerbittlich fliehn?
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