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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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um unsern modernen deutschen Zuständen einen Spiegel vorzuhalten. pgo_006.002
Wenn er im zweiten Theile seines Gedichtes die Fehler auseinandersetzt, pgo_006.003
welche ein richtiges Urtheil verhindern, wenn er im dritten das Bild eines pgo_006.004
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er liest, angreift:

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All books he reads and all he reads assails --

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und ihm das Bild des echten Kritikers gegenüberstellt, der ohne Vorurtheil pgo_006.008
und blinde Rechthaberei auftritt:

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Not dully prepossessed nor blindly right,

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dessen Seele frei von Hochmuth ist, der gerne lobt, wenn die Vernunft pgo_006.011
auf seiner Seite steht*); wenn er die Kritiker tadelt, deren anmaßendem pgo_006.012
Geiste alle freieren Schönheiten nur als Fehler erscheinen**), und pgo_006.013
von einem vollkommenen Kritiker verlangt, daß er jedes Werk in demselben pgo_006.014
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lese, in welchem es der Autor geschrieben hat, daß er pgo_006.015
nicht da nach unbedeutenden Fehlern suche, wo Begeisterung das Gemüth pgo_006.016
hinreißt***) -- wer erkennt nicht die Tragweite dieser mit ebensovielem pgo_006.017
Witz wie liebenswürdiger Anmuth des Ausdruckes aufgestellten Behauptungen pgo_006.018
für unsere Gegenwart, welche gerade an kritischer Ueberhebung pgo_006.019
erkrankt und zahlreiche Portraits zu jenen Popeschen Unterschriften zu pgo_006.020
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Wenn die Dichter in ihrer Weise, das heißt fragmentarisch in anmuthigen pgo_006.022
und pointenreichen Versen, in einem sich dem Gedächtniß einprägenden pgo_006.023
Lapidarstyle die Regeln der Dichtkunst festzusetzen suchten: so konnten pgo_006.024
die Gelehrten in einem Zeitalter der wiedererwachenden Wissenschaft nicht pgo_006.025
hinter jenen Bestrebungen zurückbleiben, nicht ohne Beeinträchtigung der pgo_006.026
akademischen Würde ein für die Kenntniß des Alterthums so wichtiges pgo_006.027
Gebiet, wie das der Poetik, dem Belieben der Schöngeister überlassen. pgo_006.028
Wenn diese die Poetik etwas leicht, flüchtig, unsystematisch behandelten: pgo_006.029
so verfielen die Männer der Wissenschaft in das entgegengesetzte Extrem, pgo_006.030
indem sie pedantisch die widerstrebende Poesie in einen starren Formalismus pgo_006.031
bannten! Welch' ein Herbarium poetischer Blüthen ist die Poetik

*) pgo_006.032
Essay on criticism 641: a soul exempt from pride, pgo_006.033
And love to praise with reason on his side.
**) pgo_006.034
Essay on criticism 170.
***) pgo_006.035
Ibid. 233 u. flgde.

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Not dully prepossessed nor blindly right,

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bannten! Welch' ein Herbarium poetischer Blüthen ist die Poetik

*) pgo_006.032
Essay on criticism 641: a soul exempt from pride, pgo_006.033
And love to praise with reason on his side.
**) pgo_006.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/28>, abgerufen am 29.03.2024.