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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Wo sie sich indeß zur Herrschaft erheben, Bild und Bedeutung in den pgo_249.002
Hintergrund drängen will: da erhalten wir entweder der Dichtkunst pgo_249.003
unwürdige musikalische Trällereien, wie sie sich häufig in der Volkspoesie pgo_249.004
finden, oder die Musik der Sprache, die sich selbst Zweck geworden, verführt pgo_249.005
zu gekünstelten Tongemälden, zu koketten und spielerischen Reimereien, pgo_249.006
von denen die italienischen Strophenbildungen in den Händen der pgo_249.007
deutschen Romantiker schlagende Proben geben.

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Da das Wort stets der Träger der Vorstellung ist: so malt auch pgo_249.009
die Lyrik, wie die Poesie überhaupt, für das innere Auge der Seele. pgo_249.010
Doch hierin darf sie sich nicht dem epischen Behagen überlassen, nicht pgo_249.011
das beschreibende Element in den Vordergrund drängen, sondern bei der pgo_249.012
Schilderung nie vergessen, daß die äußere Welt ihr nur als Spiegel der pgo_249.013
innern gilt. Die beschreibende Poesie als solche ist ein losgelöster pgo_249.014
Bestandtheil der epischen; ihre Selbstständigkeit hat nur eine zweifelhafte pgo_249.015
Berechtigung; aber aus dem Bereich der Lyrik fällt sie gänzlich pgo_249.016
heraus. Auch würde sie dadurch nicht lyrisch werden, daß sie pgo_249.017
Zustände des Seelenlebens selbst in den Kreis ihrer Darstellung zu ziehn pgo_249.018
versuchte; denn das Verhalten des beschreibenden Dichters zu seinem pgo_249.019
Objekt ist ein äußerliches, wie es dem stimmungsvollen Charakter der pgo_249.020
Lyrik nicht entspricht. Das Bild des Lyrikers hat keinen festen plastischen pgo_249.021
Halt; es schwebt gleichsam nur auf den Wogen der Empfindung; und pgo_249.022
selbst in denjenigen Gattungen der Lyrik, in denen ein reicheres mehr verweilendes pgo_249.023
Ausmalen gestattet ist, müssen die Farben des Kolorits der pgo_249.024
Stimmung der Seele entsprechen, aus der das Bild geboren ist, in die es pgo_249.025
wieder zurückgenommen wird. Aehnlich verhält es sich mit dem Gedanken. pgo_249.026
Es ist thöricht, die Lyrik auf das Element der Stimmung, das sich pgo_249.027
nicht geist- und lebensvoll bewegt und ausbreitet, beschränken zu wollen pgo_249.028
-- eine Ansicht, die von den großen Lyrikern aller Nationen thatsächlich pgo_249.029
widerlegt, dennoch ihre Vertreter findet. Jm Gegentheil, gerade eine pgo_249.030
gedankenvolle Lyrik nimmt den höchsten Rang ein; ihr verdanken wir die pgo_249.031
hervorragendsten Schöpfungen auf diesem Gebiete. Doch ihre nothwendige pgo_249.032
Voraussetzung ist eine dichterische Kraft, welche diesem Stoffe pgo_249.033
gewachsen, Adel, Würde und Größe der Seele, welche sich nicht nur in pgo_249.034
jede Gedankenwelt hineinzuempfinden vermag, sondern von Hause aus so pgo_249.035
in ihr lebt und webt, daß ihre eigenste Stimmung gleichsam nur ein

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deutschen Romantiker schlagende Proben geben.

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Da das Wort stets der Träger der Vorstellung ist: so malt auch pgo_249.009
die Lyrik, wie die Poesie überhaupt, für das innere Auge der Seele. pgo_249.010
Doch hierin darf sie sich nicht dem epischen Behagen überlassen, nicht pgo_249.011
das beschreibende Element in den Vordergrund drängen, sondern bei der pgo_249.012
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Stimmung der Seele entsprechen, aus der das Bild geboren ist, in die es pgo_249.025
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— eine Ansicht, die von den großen Lyrikern aller Nationen thatsächlich pgo_249.029
widerlegt, dennoch ihre Vertreter findet. Jm Gegentheil, gerade eine pgo_249.030
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hervorragendsten Schöpfungen auf diesem Gebiete. Doch ihre nothwendige pgo_249.032
Voraussetzung ist eine dichterische Kraft, welche diesem Stoffe pgo_249.033
gewachsen, Adel, Würde und Größe der Seele, welche sich nicht nur in pgo_249.034
jede Gedankenwelt hineinzuempfinden vermag, sondern von Hause aus so pgo_249.035
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/271>, abgerufen am 12.05.2024.