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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Erstes Hauptstück.
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Die Lyrik.


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Erster Abschnitt.
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Wesen der Lyrik.

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Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der pgo_248.006
Empfindung und ihrer unmittelbaren Gegenwart; sie macht die pgo_248.007
empfindende Seele zum Mittelpunkt des Universums und giebt dem pgo_248.008
Augenblick einen unendlichen Werth. Die Lyrik erschließt die Poesie pgo_248.009
des Gemüthes und seiner wechselnden Stimmungen, die reiche, vielbewegte pgo_248.010
Jnnerlichkeit, welche gleichsam die ganze äußere Welt in ihrem pgo_248.011
Feuer aufzehrt. Sie spricht diese Stimmungen mit der Wärme und Frische pgo_248.012
momentaner, aber doch künstlerisch geläuterter Erregtheit aus und leiht pgo_248.013
ihnen den ganzen melodischen und rhythmischen Zauber der Sprache.

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Da die Lyrik das Reich der Stimmungen beherrscht: so entspricht sie pgo_248.015
der Musik und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That pgo_248.016
kommt in ihr ebenfalls das unbestimmte Weben des Gemüths zu seinem pgo_248.017
Recht und seinem Ausdruck, und in der Form gebietet sie über die ganze pgo_248.018
Musik der Sprache. Doch schon aus dem Wesen der Dichtkunst geht pgo_248.019
hervor, daß auch die Lyrik nicht, wie die Musik, in der Welt der Töne pgo_248.020
das alleinige Medium finden kann, in welchem sich der Ausdruck der pgo_248.021
Seele offenbart, sondern daß sie den bestimmteren Aether der Vorstellung, pgo_248.022
das geistige Bild, zum Ausdruck der Empfindung wählt. Freilich hat pgo_248.023
das Wort, außer seiner Bedeutung, auch seine tönende Saite, und auch pgo_248.024
diese kommt in der Lyrik, der musikalischen Poesie, zu ihrem Rechte.

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Erstes Hauptstück.
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Erster Abschnitt.
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Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der pgo_248.006
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der Musik und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That pgo_248.016
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/270>, abgerufen am 12.05.2024.