Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_201.001 pgo_201.007 pgo_201.016 Deine Blumen kehren wieder pgo_201.028 Deine Tochter kehret nicht! pgo_201.029 pgo_201.001 pgo_201.007 pgo_201.016 Deine Blumen kehren wieder pgo_201.028 Deine Tochter kehret nicht! pgo_201.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0223" n="201"/><lb n="pgo_201.001"/> gewinnt die Architektonik des Versbaues eine der antiken Plastik sich <lb n="pgo_201.002"/> nähernde Grundlage, ohne den freieren Schwung der deutschen Gedankenlinien <lb n="pgo_201.003"/> einzubüßen. Es ist für die Bildung der Gegenwart unmöglich, <lb n="pgo_201.004"/> wie Platen's Dichter „Kind“ im „romantischen Oedipus,“ <hi rendition="#g">Holzklotzpflock</hi> <lb n="pgo_201.005"/> als Daktylus zu benutzen; und ähnliche Daktylen bei Schiller <lb n="pgo_201.006"/> berühren das Ohr auf das Unangenehmste.</p> <p><lb n="pgo_201.007"/> Durch Vereinigung mehrerer Längen und Kürzen entsteht der <hi rendition="#g">Versfuß,</hi> <lb n="pgo_201.008"/> durch Verbindung mehrerer Versfüße die <hi rendition="#g">Versreihe,</hi> welche entweder <lb n="pgo_201.009"/> allein oder in Verbindung mit einer andern den Vers bildet. Die <lb n="pgo_201.010"/> Versfüße sind entweder <hi rendition="#g">gleichmäßig</hi> und bestehn nur aus Längen oder <lb n="pgo_201.011"/> Kürzen, oder <hi rendition="#g">ungleichmäßig,</hi> indem sich Längen und Kürzen vermischen. <lb n="pgo_201.012"/> Der einzelne Vers selbst wird sichtlich gegen den nächstfolgenden <lb n="pgo_201.013"/> abgegrenzt, eine Grenze, die im Hexameter der im sechsten Fuß allein <lb n="pgo_201.014"/> gültige Spondäus bezeichnet, während sie am schärfsten in der neuern <lb n="pgo_201.015"/> Dichtung durch den Reim bestimmt wird.</p> <p><lb n="pgo_201.016"/> Das Geheimniß der Rhythmik besteht in dem Wechsel von <hi rendition="#g">Hebung</hi> <lb n="pgo_201.017"/> und <hi rendition="#g">Senkung, Arsis</hi> und <hi rendition="#g">Thesis;</hi> in der <hi rendition="#g">Hebung</hi> dürfen im <lb n="pgo_201.018"/> Deutschen nur Längen stehn; ein Lesen mit Beachtung der rhythmischen <lb n="pgo_201.019"/> Bewegung nennt man <hi rendition="#g">Skandiren.</hi> Jeder Einschnitt des Wortfußes <lb n="pgo_201.020"/> in den Versfuß ist eine <hi rendition="#g">Cäsur</hi> im weitern Sinne; <hi rendition="#g">Cäsur</hi> im engern <lb n="pgo_201.021"/> Sinne ist der Hauptabschnitt in der Mitte der größern Verse, der die <lb n="pgo_201.022"/> Abtheilung in zwei ganz gleiche Hälften verhindert. Häufige Cäsuren <lb n="pgo_201.023"/> im weitern Sinne, Verschlingungen der Wort- und Versfüße, geben <lb n="pgo_201.024"/> dem Vers größere Beweglichkeit und rhythmische Kraft, während das <lb n="pgo_201.025"/> häufige Zusammenfallen Beider dem Vers eine einschläfernde Monotonie <lb n="pgo_201.026"/> giebt z. B.</p> <lb n="pgo_201.027"/> <lg> <l>Deine Blumen kehren wieder</l> <lb n="pgo_201.028"/> <l>Deine Tochter kehret nicht!</l> </lg> <p><lb n="pgo_201.029"/> Jndem der Ab- und Aufschwung des rhythmischen Taktes die Seele <lb n="pgo_201.030"/> in eine freiere Stimmung versetzt und den dichterischen Gedanken nicht <lb n="pgo_201.031"/> hemmt, sondern trägt, gewährt er zugleich das Recht zu Freiheiten der <lb n="pgo_201.032"/> Sprache, welche das erhöhte Bewußtsein dieser Stimmung geben. Hierher <lb n="pgo_201.033"/> gehören zunächst die <hi rendition="#g">syntaktischen Licenzen,</hi> welche dem Dichter <lb n="pgo_201.034"/> erlauben, zu den naiven Konstruktionen der werdenden Sprache zurückzukehren. <lb n="pgo_201.035"/> Er darf das Zeitwort im Deutschen vor das von ihm regierte </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [201/0223]
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gewinnt die Architektonik des Versbaues eine der antiken Plastik sich pgo_201.002
nähernde Grundlage, ohne den freieren Schwung der deutschen Gedankenlinien pgo_201.003
einzubüßen. Es ist für die Bildung der Gegenwart unmöglich, pgo_201.004
wie Platen's Dichter „Kind“ im „romantischen Oedipus,“ Holzklotzpflock pgo_201.005
als Daktylus zu benutzen; und ähnliche Daktylen bei Schiller pgo_201.006
berühren das Ohr auf das Unangenehmste.
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Durch Vereinigung mehrerer Längen und Kürzen entsteht der Versfuß, pgo_201.008
durch Verbindung mehrerer Versfüße die Versreihe, welche entweder pgo_201.009
allein oder in Verbindung mit einer andern den Vers bildet. Die pgo_201.010
Versfüße sind entweder gleichmäßig und bestehn nur aus Längen oder pgo_201.011
Kürzen, oder ungleichmäßig, indem sich Längen und Kürzen vermischen. pgo_201.012
Der einzelne Vers selbst wird sichtlich gegen den nächstfolgenden pgo_201.013
abgegrenzt, eine Grenze, die im Hexameter der im sechsten Fuß allein pgo_201.014
gültige Spondäus bezeichnet, während sie am schärfsten in der neuern pgo_201.015
Dichtung durch den Reim bestimmt wird.
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Das Geheimniß der Rhythmik besteht in dem Wechsel von Hebung pgo_201.017
und Senkung, Arsis und Thesis; in der Hebung dürfen im pgo_201.018
Deutschen nur Längen stehn; ein Lesen mit Beachtung der rhythmischen pgo_201.019
Bewegung nennt man Skandiren. Jeder Einschnitt des Wortfußes pgo_201.020
in den Versfuß ist eine Cäsur im weitern Sinne; Cäsur im engern pgo_201.021
Sinne ist der Hauptabschnitt in der Mitte der größern Verse, der die pgo_201.022
Abtheilung in zwei ganz gleiche Hälften verhindert. Häufige Cäsuren pgo_201.023
im weitern Sinne, Verschlingungen der Wort- und Versfüße, geben pgo_201.024
dem Vers größere Beweglichkeit und rhythmische Kraft, während das pgo_201.025
häufige Zusammenfallen Beider dem Vers eine einschläfernde Monotonie pgo_201.026
giebt z. B.
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Deine Blumen kehren wieder pgo_201.028
Deine Tochter kehret nicht!
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Jndem der Ab- und Aufschwung des rhythmischen Taktes die Seele pgo_201.030
in eine freiere Stimmung versetzt und den dichterischen Gedanken nicht pgo_201.031
hemmt, sondern trägt, gewährt er zugleich das Recht zu Freiheiten der pgo_201.032
Sprache, welche das erhöhte Bewußtsein dieser Stimmung geben. Hierher pgo_201.033
gehören zunächst die syntaktischen Licenzen, welche dem Dichter pgo_201.034
erlauben, zu den naiven Konstruktionen der werdenden Sprache zurückzukehren. pgo_201.035
Er darf das Zeitwort im Deutschen vor das von ihm regierte
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