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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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4) Die Wiederholung, durch welche der Ausdruck an Kraft pgo_176.002
gewinnt, besonders die Anaphora, die Wiederholung der Worte am pgo_176.003
Anfange. Die Epistrophe, die Wiederholung der Worte am Ende pgo_176.004
der Rede, bildete sich in der Lyrik zum Refrain aus. Die Grammatiker pgo_176.005
haben, je nach der Stelle, an der sich die wiederholten Worte befinden, pgo_176.006
in gelehrter Spielerei eine Menge von Figuren unterschieden*).

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Die Anaphora darf nicht zu häufig sein, sonst wirkt sie komisch z. B.

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Ja ich bin's, du Unglücksel'ge, pgo_176.009
Ja ich bin's, den du genannt! pgo_176.010
Bin's, den alle Wälder kennen, pgo_176.011
Bin's, den Mörder Bruder nennen, pgo_176.012
Bin der Räuber Jaromir.
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Grillparzer.

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Feurigen Drang der Seele drückt diese Wiederholung sehr oft in den pgo_176.015
Schiller'schen Dramen aus:

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Jetzt oder nie! Wir sind allein. pgo_176.017
Der Etikette bange Scheidewand pgo_176.018
Jst zwischen Sohn und Vater eingesunken. pgo_176.019
Jetzt oder nie! Ein Sonnenstrahl der Hoffnung pgo_176.020
Glänzt in mir auf.

Don Carlos.

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Jch habe Niemand -- Niemand -- pgo_176.022
Auf dieser großen weiten Erde Niemand! pgo_176.023
Soweit das Scepter meines Vaters reicht, pgo_176.024
Soweit die Schifffahrt uns're Flaggen sendet pgo_176.025
Jst keine Stelle, keine, keine, wo pgo_176.026
Jch meiner Thränen mich entlasten darf, pgo_176.027
Als diese.

Don Carlos.

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Ueberhaupt verweisen wir auf dies Stück, dessen charakteristischer pgo_176.029
Styl gerade in dieser Emphase des Gemüthes besteht und von leidenschaftlichen pgo_176.030
Fragen, Ausrufungen, Anaphoren und Epistrophen wimmelt.

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5) Die Steigerung (Klimax), eine Figur, welche den überzeugenden pgo_176.032
Gedanken oder den wachsenden Affekt durch immer neue, stufenmäßige pgo_176.033
Verstärkung des Wortes und des Bildes ausdrückt und in der pgo_176.034
Regel hyperbolisch schließt. Die korrekte Steigerung verlangt, daß niemals pgo_176.035
der schwächere Gedanke oder das schwächere Bild hinter das stärkere

*) pgo_176.036
Anaphora, Epistrophe, Symploke, Epanalepsis, Epanodos u. s. f.

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4) Die Wiederholung, durch welche der Ausdruck an Kraft pgo_176.002
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Die Anaphora darf nicht zu häufig sein, sonst wirkt sie komisch z. B.

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Der Etikette bange Scheidewand pgo_176.018
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Glänzt in mir auf.

Don Carlos.

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Don Carlos.

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Fragen, Ausrufungen, Anaphoren und Epistrophen wimmelt.

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5) Die Steigerung (Klimax), eine Figur, welche den überzeugenden pgo_176.032
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/198>, abgerufen am 27.04.2024.