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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Bilder gehören der Phantasie an; die Figuren dem Gemüth oder Verstand. pgo_175.002
Die alten Rhetoriker sind unerschöpflich in der Aufstellung und pgo_175.003
Definition von Figuren, indem sie jede Abweichung von dem herkömmlichen pgo_175.004
Geleis der Grammatik und Syntax mit einem stolzklingenden pgo_175.005
Namen taufen. Wir greifen aus dem reichhaltigen Schatze nur diejenigen pgo_175.006
heraus, welche für die Dichtkunst von besonderer Wichtigkeit sind:

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1) Die Ausrufung, die in den alten Sturm- und Drangtragödieen pgo_175.008
z. B. Klinger's das ganze Pathos der Leidenschaft naturwüchsig pgo_175.009
ersetzen sollte! Höchst frostig ertönt in den modern-antiken Schauspielen pgo_175.010
das: ihr Götter! bei'm Zeus! u. s. f., weil uns diese Ausrufungen an pgo_175.011
eine ganz andere Weltanschauung gemahnen. Shakespeare ist in seinen pgo_175.012
pathetischen Scenen reich an Ausrufungen, die oft der grelle Ausschrei pgo_175.013
der inneren Leidenschaft, des inneren Kampfes sind:

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Lear.

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Pest, Rache, Tod, Vernichtung! pgo_175.016
Was feurig? was Gemüth? Ha Gloster, Gloster!

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und später:

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Weh' mir, mein Herz, mein schwellend Herz, hinunter!

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2) Die Frage, als Ausbruch des Affektes:

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Jch frage, giebt es einen Gott? Was -- dürfen pgo_175.021
Jn seiner Schöpfung Könige so hausen?
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Schiller.

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3) Die Anrede, Apostrophe, in welcher der Keim und erste pgo_175.024
Ansatz zur dichterischen Personifikation verborgen liegt:

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Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Thäler!
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Schiller.

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O Morgenduft auf dunklen Wäldern, pgo_175.028
O Maienwonne, Sommerlust! pgo_175.029
O Lerchensang auf grünen Feldern, pgo_175.030
Wie sehnt nach euch sich meine Brust!
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Prutz.

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O Meer im Abendstrahl, pgo_175.033
An deiner stillen Fluth, pgo_175.034
Fühl' ich nach langer Qual pgo_175.035
Mich wieder fromm und gut.
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Meißner.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/197>, abgerufen am 27.04.2024.